9783956141195Canavese, „eine Gegend des Piemont mit ungewissen Grenzen, ungewissen Zugehörigkeiten“ (Seite 21). Hier spielt die Familiensaga von Margherita Giacobino, die Geschichte einer jener Familien, die nach Tolstoi „unglücklich auf ihre eigene Weise sind.“
Wer schon einmal in dieser Gegend war, oder sonst wo im Piemont, der wird sie aus Restaurants und Hotels kennen, diese alten Familienfotos an den Wänden aus der Zeit um 1900: Niemand lächelt. Stolze, trotzige, herrische Männer mit Schnauzbart und Hut. Vorzeitig gealterte Frauen, tragisch und ausdruckslos. Kinder mit weit aufgerissenen Augen in den überraschten Gesichtern. Nirgends eine Spur von Wohlwollen. (siehe auch Seite 9)
Und ein solches imaginäre Bild diente der Autorin als Ausgangspunkt ihrer eigenen Familiengeschichte. Wie ein übervoller Banketttisch so präsentiert sich dieser Roman. Sie verlässt die lineare Zeitschiene, von den Anfängen bis heute. Von der Urgroßmutter bis zur Nichte. Alle Geschichten sind gleichzeitig vorhanden und Margherita Giacobino lässt uns entlanggleiten und regt von Seite zu Seite unseren Appetit auf mehr an: kleine Häppchen, großzügige Schlucke ergeben am Ende ein komplettes Porträt. Trotzdem finden wir als Leser es schade, dass es aufhört. Wir sind immer noch hungrig, begierig, um mehr zu erfahren.
Die Geschichte beginnt im späten neunzehnten Jahrhundert in einem Bauernhaus der Canavese, in dem alle zusammen leben, Jung und Alt. Und alle unterliegen den Gesetzen der Tradition. „Ihr Sakrament wird die Arbeit sein, ihre Religion die Pflicht.“ (Seite 12)
Die Protagonisten sind Frauen, einfache Frauen, kantig, wild und mutig, ein wenig wie Hexen. Da ist die Magna Ninin, Schwester der Großmutter, ihre Schwestern Michin (Domenica), Margherita und Maria, die Lustige: Lachen „ist ein Luxus, den sich jeder leisten kann.“ (Seite 105). Stark und entschlossen verwalteten sie das Leben von Kindern, Männern und den Älteren. Und ohne ihren besonderen Humor hätten sie alle wohl nicht überlebt.
Margherita Giacobino keine triviale Rekonstruktion einer Nostalgie. Nein. Das Buch ist getragen von Empathie, von einem Gefühl Situationen und Charaktere vor uns erscheinen zu lassen, die unvergleichlich ist. Sie verfolgt das Leben in all seinen Erscheinungsformen, lässt es in unsere Welt einfließen.
Wie alle Familiengeschichten, die mehrere Generationen umfassen, kann als einfache Geschichte von Menschen gelesen werden. Oder stattdessen als ein Kompendium der italienischen Geschichte ab Ende des 19. Jahrhundert: Der Abstieg aus den Bergen in die Stadt, den Übergang vom Land in die Fabrik, dann aus der Fabrik in den Laden. Die temporären Emigrationen nach Frankreich und letztlich nach Amerika. Internierung in Deutschland und Rückkehr nach Italien. Der plötzliche Reichtum in den 60-er Jahren. Mehr als in vielen anderen Bücher findet jeder, was er will. Es gibt alles.
Margherita Giacobino hat uns ein ansprechendes, sehr intensives Buch geschenkt, einen Roman von großer Reife. Sie erzählt in ihren Charakteren eine persönliche und kollektive Geschichte von einer Welt, die von den inneren Dimensionen bestimmt ist. Es ist eine tiefe Reflexion über Beziehungen, Identitäten, Nähe und Trennung, Vertrauen und Liebe – ein Weg zur Selbsterkenntnis
Sie schreibt nachdenklich und ungestüm zugleich, manchmal lyrisch, von großer Schönheit. Nichts ist idealisiert. Sie schreibt mit einer Klarheit, die nicht die Augen vor den Verzerrungen und der Gewalt der Geschichte verschließt. Der ungleichen Beziehung zwischen Männern und Frauen, der Ungerechtigkeit der Armut und vor allem der Fähigkeit, sich von all dem durch den Mut zu Entscheidungen zu befreien, all dem verleiht die Autorin eine Sprache. Sie schafft diese kühne Verbindung zwischen Imagination und Reflexion.
Gehen Sie als Leser mit diesem auf eine Reise. So können auch Sie ihre eigenen Wurzeln erkennen und lernen, sich zu bewegen, zu denken und zu hinterfragen.

Jules Barrois

Margherita Giacobino, geboren 1952, lebt als Schriftstellerin, Übersetzerin und Regisseurin in Turin. Sie übersetzte u.a. Werke von Emily Brontë und Gustave Flaubert ins Italienische. In Deutschland wurde sie vor allem mit ihrem Roman Hausfrauen in der Hölle und der literarischen Travestie Elinor Rigby – Eine Amerikanerin in Paris bekannt.

Margherita Giacobino
Familienbild mit dickem Kind
Übersetzt von Maja Pflug
320 Seiten
ISBN 978-3-95614-119-5
22 € (D)