Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi
Für mich ist Sylvain Prudhomme eine Entdeckung am literarischen Himmel. Er ist nicht nur ein weltgewandter Mann, sondern auch ein begnadeter, feinfühliger Autor. In diesem kurzen Roman entfaltet er eine ganz eigene Wort- und Sprachmelodie.
Ein ruhiger, tiefgründiger Roman ohne große Action
Der Junge im Taxi ist ein leiser Roman – ohne dramatische Wendungen, aber voller Melancholie, psychologischer Tiefe und schicksalhafter Verstrickungen. Prudhomme beleuchtet das Geflecht einer großbürgerlichen Familie, in der Zusammenhalt durch Schweigen und Verschweigen entsteht. Gleichzeitig thematisiert er die tiefe menschliche Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Wahrhaftigkeit.
Ein zentrales Thema sind die rund 400.000 Kinder, die aus Beziehungen zwischen deutschen Frauen und alliierten Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen – Schicksale, die in der offiziellen Geschichtsschreibung kaum Beachtung fanden. Diese sogenannten „Besatzungskinder“ wurden oft stigmatisiert, ihre Mütter verachtet. Prudhomme gibt diesen vergessenen Biografien eine Stimme.
Eine imaginierte Liebesgeschichte als Ausgangspunkt
Der Roman beginnt mit einer imaginierten Liebesgeschichte: Eine Deutsche und ein Franzose. Er war sanft, friedlich, freundlich – anders als die anderen. Die Anziehungskraft zweier Gegensätze: germanische Strenge trifft südländische Leichtigkeit. Es ist das Frohlocken des Lebens inmitten düsterer Zeiten.
Prudhomme verwebt geschickt das Schicksal des Ich-Erzählers Simon, der gerade die Trennung von seiner Frau verarbeitet, mit der Suche nach M., dem geheimnisvollen Kind seines Großvaters Malusci. M. ist ein desertierter Fremdenlegionär, dem von der französischen Armee 40 Jahre Aufenthaltsverbot erteilt wurde. Simon begibt sich auf die Reise zu M., der heute als Antiquitätenhändler in einer kleinen Stadt am Bodensee lebt – einem Menschen, der sich mit Gegenständen beschäftigt, die ebenso verloren und in der Schwebe sind wie er selbst.
Ein Rückblick auf ein familiäres Schweigen
Simons Familie hat wenig getan, um Licht in die Vergangenheit zu bringen. Vieles bleibt unausgesprochen – Fragen nach Liebe, Verantwortung, Herkunft und Identität. Das Garn der Zeit spult sich für ihn rückwärts, enthüllt eine Familiengeschichte, die nicht nur im französischen Süden verwurzelt ist, sondern auch im algerischen Hinterland.
Eine poetisch-zärtliche Hommage an die Liebe
Die Geschichte von M. und der Familie Malusci ist keine „chronique scandaleuse“, sondern ein fein gezeichnetes Zeitpanorama. Prudhomme zeigt, dass man dem Karma nicht entkommt. Der letzte Satz des Romans ist so zart wie das ganze Buch selbst. Vom ersten bis zum letzten Wort ist dieser Roman eine poetisch-zärtliche, nachdenkliche und tragische Hommage an die Liebe – über alle Grenzen hinweg.
Almut Scheller-Mahmoud
Bibliografie
Sylvain Prudhomme
Der Junge im Taxi
Roman, aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Originaltitel: L’Enfant dans le Taxi
Originalsprache: Französisch
Erstauflage: 10.7.2025
Auflage: 2
Hardcover
192 Seiten
ISBN: 978-3-293-00632-4
€ 22.00, FR 30.00, € [A] 22.70
Unionsverlag
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