Alkohol, Facebook und Sex – Pubertät im Zeitalter der Reizüberflutung

Nabokovs Roman „Lolita“, der erstmals 1955 in Paris erschien, löste seinerzeit einen Sturm der Empörung aus. Die pädophile Liebesbeziehung des Ich-Erzählers zur zwölfjährigen Lolita stand und steht noch heute gegen jede gesellschaftliche Vorstellung von Anstand und Moral. Während in Nabokovs Geschichte die ambivalenten Gefühle des Erwachsenen und die Handlungsweisen des Mädchens das Ausnutzungsverhältnis nur bedingt in Frage stellen, sind die moralischen Fronten in „Lolito“ von Ben Brooks weit weniger klar erkennbar.

Etgar ist ein nervöser fünfzehnjähriger, der sein Leben am liebsten allein im Bett und vor dem Bildschirm verbringt. Zugleich erforscht er seine Sexualität mit seiner Freundin Alice und in heimlichen „Trockenübungen“ mit der gemeinsamen Bekannten Hattie, stets unter dem starken Eindruck möglichst extremer Pornovideos aus dem Internet. Sein Freund Aslam überredet ihn regelmäßig dazu, unter Menschen zu gehen. Aus Langeweile entstehen so viele Alkoholexzesse und Drogenexperimente. Seinen Alltag bissig kommentierend und mit allerlei popkulturellen Zitaten garnierend, lebt Etgar vor sich hin. Von diversen Pubertätsproblemen geplagt, aber ohne große Fragen an die Welt. Bis plötzlich alles aus den Fugen gerät, als Alice ihn, im Alkoholrausch, mit einem älteren Jungen betrügt. Etgar knallt sich erstmal mit Schmerztabletten zu und beginnt aus einer Laune heraus auf einer Flirtseite für Erwachsene zu chatten. Schnell lernt er Macy kennen, der er unbeholfen vorzuspielen versucht, ein erfolgreicher – erwachsener – Hypothekenmakler zu sein.

Nach dem Cyber-Sex vereinbaren die beiden ein Treffen. Macy, die Etgars Vorspiegelungen längst durchschaut hat, stört sich nicht an seinem Alter. Wenige Tage nachdem die beiden die Nacht im Hotel verbracht haben, steht die Polizei vor der Tür. Macys Verhalten wird Konsequenzen haben.

Christian Ulmens unverwechselbarer Vortrag drückt dem Roman seinen eigenen Stempel auf und passt perfekt zu dieser Geschichte über die sexuelle Verwirrung der Generation Facebook. An wenigen Stellen führen seine hohe Sprechgeschwindigkeit und sein charakteristisch nuscheliger Tonfall zu etwas angestrengtem Hören. Nach kurzer Zeit aber findet er den perfekten Sprechrhythmus und es entsteht eine großartige Synthese aus Worten und Stimme.

In weiten Teilen ist „Lolito“ zeitgemäßer Pop. Ein bisschen vulgär, ein bisschen drastisch, ohne es ernstlich darauf anzulegen, jemandem wehzutun. Die, von Schimpfworten und plumpen sexuellen Anspielungen durchzogene, manchmal etwas stenographische Sprechweise der Figuren wirkt authentisch, durch ihre Oberflächlichkeit aber auch banal.

Erst im letzten Drittel entsteht ein ernsthafter und sehr spannender Handlungsstrang. Etgars Verwirrung und sein Widerstand dagegen, als Opfer betrachtet zu werden, vermittelt Brooks sehr glaubhaft. Die Konflikte zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen subjektivem Empfinden und bürgerlicher Moral stimmen nachdenklich.

(Tobias Schudok)

Über den Autor

Ben Brooks wurde 1992 in Gloucestershire, in England geboren. Lolito ist sein sechster Roman, sein zweiter in deutscher Übersetzung. Er lebt in Berlin.

Über den Sprecher

Christian Ulmen, geboren 1975, begann seine Karriere bei MTV Europe. Durch seine zahlreichen Aktivitäten als Moderator, Schauspieler, Publizist und Produzent ist er heute vor allem einem breiten jüngeren Publikum bekannt.

Bibliographie

Lolito

Atrium Verlag
gebunden, 272 Seiten

für Erwachsene
ISBN: 978-3-85535-055-1

Hörbuch

gesprochen von Christian Ulmen
Atrium Verlag

3 CDs, Spieldauer 220 Min.
ISBN 978-3-85535-056-8