Die Brunnen der Vergangenheit

Gabrielle Alioth: Die Überlebenden

Die Essenz dieses Romans ist das Verschweigen, das Beschweigen, in einer Schweizer Familie, über mehrere Generationen. Das Nicht-Aussprechen, das nicht einmal sich zu denken Wagende. Das Spiel der Macht in den Facetten von sexuellem Missbrauch, von körperlicher Züchtigung, vom Niederdrücken und vom Kleinhalten. Und das traurige Resultat des sich Ergebens, des Mitspielens, des Opferstatus.

Mina mit ihrem Mann Oskar, ihre Nichte Vera und ihr Neffe Max sind die namentlich genannten Protagonisten. Mina, die Ehefrau, die Haushalt und Kindererziehung nach den Direktiven ihres meist abwesenden Mannes ausführt, als Dienerin, ohne Widerworte, ohne ein Aufmucken.
Max wird Kampfpilot im Vietnamkrieg und wird Zeuge und Mitspieler von bellizistischer Gewalt. Auch hier die Mächtigen, aber als Gegenspieler die Vietcong: die sich siegreich Wehrenden. Und Vera flüchtet sich in die vermeintlich heile Welt der Natur, in die Welt der Schmetterlinge. Die Metaphorik dieser Insekten ist ein wunderbares Beispiel der Verpuppung und besonders der Entpuppung von Veras Seele.  Vera ist die einzige, der ein Neuanfang gelingt, die sich aus dem verschwiegenen Kreislauf der Gewalt befreien kann. Und endlich leben kann. Auch ihr Mann Jens ist ein Geschädigter, als Sohn eines Nazis.

Über allem schwebt Minas Vater, der Großvater von Max und Vera – der Patriarch wie er „im Buche steht“.  Wie so oft ist dieser ein geachteter Bürger seiner Gemeinde: vertreten im Kantonsrat, Bezirksgericht, in der Bäckerinnung, Handwerker- und Gewerbeverein, Männerchor und Turnverein, Schützengesellschaft.

Der Roman ist aufgebaut wie ein Kartenhaus, bei dem die Karten immer wieder neu gemischt werden. Sehr verwirrend, wenn man kein Pokerface-Leser ist. Es ist eine seltsame Lektüre durch die wechselnden Perspektiven von Mina, Max und Vera und auch im jeweiligen Text noch ein Wechsel der Chronologie. Es handelt sich um ein Familiendrama, um Traumata, die aber nie explizit ausgesprochen werden, sondern unterschwellig und subtil präsent sind. Ich konnte nicht warm werden mit dem Text. Für mich zu viel Unausgesprochenes, zu viel Angedeutetes, Schwebendes, so dass es mehr wie ein Rätselraten war – wer hat wen missbraucht und wie? Wäre ein besonderes Sujet für eine Familienaufstellung.

Und doch ist der Roman empfehlenswert. Weil er genau durch dieses Unausgesprochene, nur Angedeutete, das Schwebende die Scham der Opfer, die Scham der Gesellschaft ausdrückt.  Was nicht ausgesprochen wird, existiert nicht.
Er schöpft tief im Brunnen der Vergangenheit und der Seele und bringt langsam die Wahrheit ans Tageslicht.

(Almut Scheller-Mahmoud)

 

überlebendenBibliografie:

Gabrielle Alioth
Die Überlebenden
Hardcover 269 Seiten
ISBN 978-3-03925-015-8
€ 27.80 / Fr. 32.00