Geetanjali Shree: Mai

„Mai“ ist das Romandebüt Geetanjali Shrees, bereits 1993 veröffentlicht und übersetzt. Die deutsche Übersetzung aus dem Hindi erfolgte erst 2010.

Der Roman ist eine Familiengeschichte, eine coming of Age-Geschichte der Geschwister Sunaina und Subodh. Es ist eine konfliktbeladene Geschichte, die drei Generationen umfasst und eine psychologische Studie. Eine Studie, speziell der indischen Gesellschaft mit ihren Traditionen und fest gefügten Regeln, die selbst das familiäre Leben,„Das Innen und das Draußen“, als absolute Verhaltensnorm regeln.

Die Hauptperson ist Mai, Ehefrau, Schwiegertochter und Mutter, deren devotes stilles Wesen die beiden Kinder immer wieder herausfordert. Je älter sie werden, um so mehr haben sie den Drang, ihre Mutter zu befreien. Aus dem Gefängnis der untertänigen Schwiegertochter, der dem Ehemann gefälligen Ehefrau. Aus dem Gefängnis der Parda: einer räumlichen Abschottung der Frauen, verbunden mit Verschleierung. Gegebenheiten, die wir europäischen Durchschnittsmenschen nur mit dem Islam in Verbindung bringen und uns darüber echauffieren.

Sunaina berichtet in Ich-Form von ihrem Kampf für die Freiheit der Mutter und auch für ihre eigene und die ihres Bruders.
Sie wollen ihre Mutter befreien, beschützen, sie retten, aber immer wieder schwingt etwas Unergründliches auf in Mai. Trotz ihrer gebeugten Haltung, ihres gesenkten Kopfes mit zur Erde gewandtem Blick, ihres Schweigens und Nicht-Aufbegehrens bewahrt sie eine hoheitsvolle Würde und Kraft. Will sie überhaupt befreit werden? Ist der Goldene Käfig für sie nicht eine Art Refugium?
Die Geschwister gehen immer nur von ihren eigenen Ansichten, Erfahrungen, Bedürfnissen aus und übertragen sie auf ihre Mutter, sie sind egozentrisch, denn nie fragen sie sich, was für ein Leben ihre Mutter vor der Heirat und Ehe geführt hat.

Die von Shree gezeichneten Charaktere erscheinen mir in ihren Verhaltensweisen fremd, zu einem anderen Kosmos gehörend. Obwohl es ähnliche Konstellationen, nur in etwas anderer Verpackung, natürlich auch bei uns gab und sicher auch noch gibt. Gerade in „höheren“ Kreisen, in denen Abstammung, Familienehre und Traditionen noch eine gewichtige Rolle spielen.

Da ist die selbstgefällige herrschsüchtige Großmutter, die elf Kinder gebar, von denen nur ein Sohn und eine Tochter überlebten. Der Sohn wird wie ein Prinzgemahl vergöttert
Da ist der jähzornige, despotische und feudalistische Großvater. Da ist der Vater, der wie der Großvater, vage angedeutet, eine außereheliche Liaison hat. Der nicht sehr gesprächig ist, sich zurückhält, wenn die Großmutter gegen Mai stichelt. Er wird Schüler eines Baba und zieht sich in sich selbst zurück. Alle Weisheit hat für ihn ihren Ursprung im Hinduismus.
Großeltern wie Eltern leben im gleichen Haus, aber in getrennten Räumen – getrennte Leben.
Mai lebt mit den Kindern in einem Zimmer, nur nachts begibt sie sich zu ihrem Ehemann. Ab und zu nimmt er sie mit in die Außenwelt.

Sunaina und Subodh – ein fast symbiotisches Wir. Dieses Wir wollte die Mutter aus den Handschellen lösen, das Netz der Gefangenschaft entwirren und dieses Wir glaubte fest daran, dass Mais Leben erst mit ihnen begonnen hatte. Sie waren arrogant und hielten sich für bedeutsam und ihre jugendliche Energie für einzigartig. Sie sahen immer nur den Schatten und hörten nur die Stille. Aber Schatten und Stille habe ihre eigenen Gesetze und Ursprünge.
Das Wir löste sich auf und sie gingen eigene Wege – Subodh nach England, Sunaina malte und zog wieder nach Hause, nachdem der Vater erkrankt war. Das Haus, dem sie immer entfliehen wollte, wurde zu einer Mixtur aus Sicherheit und Wohlbehagen und war doch gleichzeitig erstickend
Als Mai so still starb, wie sie gelebt hatte, entdeckten die Geschwister, dass sie den Wesenskern ihrer Mutter nie erfasst hatten. Sie hatte ihre eigene Würde und Lebensfülle, ihr eigenes Ich. Sie hatten sie zu einem Nichts reduziert, weil sie nur die individuelle Selbstverwirklichung ihrer eigenen Vorstellungen als hehres Ziel gesehen hatten.

Erst zum Schluss erkennt Sunaina, dass es immer zwei Wahrheiten gibt. Die Medaille und ihre Kehrseite. Auch ihre Ängste wie ihre Mutter zu werden. „Ich schaue in den Spiegel und sehe meine Mutter. (Nancy Friday)

Ein Roman, der über die Beurteilung von anderen Menschen nachdenken lässt, der intensiv und subtil viele psychologische Facetten anspricht, indem er lebendig den obsessiven Kampf der Kinder für die Freiheit und die sie enttäuschende Verweigerung der Mutter, diese Freiheit anzunehmen, schildert. Ihre Freiheiten sind nicht kompatibel.

Der Roman entführt uns in das indische Alltagsleben einer feudalistischen Gesellschaft und in die Vielfalt der indische Küche. Animiert zum Restaurantbesuch oder zum selber ausprobieren.
Aber vor allem zum Nachforschen über die traditionelle und moderne Rollen der Frauen im heutigen Indien, dem Subkontinent mit fast 1,5 Milliarden Menschen, mit einer komplexen Geschichte, einem rasanten wirtschaftlichen Wachstum und einer wichtigen Rolle im weltpolitischen Machtpoker.

mai-cover

Geetanjali Shree
Mai
Roman, Aus dem Hindi von Reinhold Schein
€ 14.00, FR 19.50, € [A] 14.40
240 Seiten
ISBN 978-3-293-20974-9