Eine Orientierung

Leila Aboulela: Minarett

Die Autorin Leila Aboulela ist selbst Sudanesin und lebt in England. Sie konfrontiert die LeserInnen mit dem Leben Nadschwas, der Ich-Erzählerin dieses Romans. Dessen schlichter Titel bedeutet übersetzt „Leuchtturm“. Ein leuchtender Wegweiser aus der Wüste Arabiens zu Mohammeds Zeiten, aber auch aus der Wüste der inneren Zerrissenheit.

Der Roman ist in sechs Kapitel gegliedert: im zeitlichen Rahmen (1984 bis 2004) hin und her springend, was allerdings etwas verwirrend sein kann. Er ist Schilderung einer Lebenssuche nach Geborgenheit, Zuneigung und Sicherheit und dem finalen Ankommen nach vielen Irrungen und Wirrungen.

Manche erreichen ihr Ziel nur temporär, andere für immer und viele stolpern durchs Leben, fallen immer wieder zurück: manche stehen wieder auf und suchen weiter, andere bleiben zurück….

Die LeserInnen werden Zeuge dieser Auf und Abs, dieses Herausgeworfenseins aus einer afrikanischen Welt in eine graue und kühl-britische, aus einer Kindheit und Jugend der sudanesischen verwestlichten Oberschicht in die Unsicherheit des Exils, ohne Eltern und Freunde, ohne Ressourcen. Ein Leben wie in einer Zwangsjacke.

Nadschwa, die ihr Leben vor uns ausbreitet. Ihr westlich geprägtes Leben in Khartoum einer wohlhabenden einflussreichen Familie. Es gab nichts, was sie nicht haben konnte. Und es gab die zwillingssymbiotische Beziehung zu ihrem Bruder Omar, der sich schläfrig und lethargisch durchs Leben gleiten ließ. „Und trotzdem lauerte in mir manchmal ein Schmerz wie von einer verheilten Wunde und Traurigkeit wie von einem vergessenen Traum“. Auf dem Campus der Uni sah sie den betenden Frauen zu, bewunderte die Choreografie ihrer gemessenen Bewegungen.  Irgendwie Neid, aber was gab es da zu beneiden?

Sie fühlte eine starke Anziehungskraft zu dem politisch engagierten und aktiven Anwar, obwohl er sie wegen ihrer Herkunft verspottete und ihren Lebensstil verachtete. Er schrieb Artikel für Studentenzeitungen. „Wir müssen das System ändern.“

Ein Putsch zwang Nadschwa, Omar und die Mutter überstürzt nach London abzureisen. Der Vater wurde verhaftet, ihre Ländereien und Häuser konfisziert, der Vater wegen Korruption und seiner engen Nähe zum Präsidenten angeklagt und später gehängt.

Die ersten Wochen in London waren wie ein tief grummelndes Erdbeben. „Dann klaffte die Erde auseinander und wir stürzten in die Tiefe, entfremdeten uns voneinander, weil wir einander noch nie hatten fallen sehen.“

Die Mutter starb, Omar verbüßte eine sehr lange Haftstrafe, weil er fast einen Polizisten erstochen hatte. Nadschwa war allein und sie musste arbeiten.

Es gab ein unerwartetes Wiedersehen mit Anwar, der jetzt als politischer Flüchtling in London lebte. Sie wurden ein Paar trotz der unüberbrückbaren Unterschiede. In ihr wuchsen Schuld-gefühle über die verlorene Jungfräulichkeit, die verlorene Reinheit.

Durch Wafâa, der Leichenwäscherin ihrer Mutter, erste Kontakte zur Moschee, wo sich die Frauen regelmäßig zum Unterricht trafen. Diese Besuche wurden zu einer festen Konstante ihres Lebens. Sie begann den Hidschab zu tragen, die ramadanische Fastenzeit einzuhalten und die Hoffnung zu nähren, dass Allah ihr ihr früheres Glück zurückgeben bzw. ein anderes, neues Glück schenken würde. Anwar bezeichnete ihren Weg zum Glauben jedoch als Gehirnwäsche, er verstand nicht, dass Nadschwa in sich geborgen sein wollte und sich den „großen Dingen“ wie Meinungsfreiheit, Menschenrecht, Terrorismus entzog. Für sie war ihr Weg ein Peeling der Seele.

Sie lernt Tamer kennen, der viele Jahre jünger ist und es entwickeln sich zarte Gefühlsbande.

Er war sehr religiös. Er war verwöhnt und lebensfremd. Als sie sich küssten, wurden sie von Lamja, seine Schwester und ihre Arbeitgeberin entdeckt. Tamers Mutter bot ihr Geld, damit sie ihren Sohn in Ruhe ließe. Nadschwa könnte mit dem Geld zur Uni gehen oder auf den Haddsch. Aber sie nannte zusätzlich eine Bedingung: dass Tamer das verhasste Wirtschaftsstudium gegen Nahost-Studien, von denen er träumte, eintauschen könne.

Aboulela gelingt es, die Seelennöte einer in die Fremdheit gestoßenen, lebensfremden jungen Frau nachvollziehbar zu schildern. Die aus der Wohlbehütetheit ihres bisherigen farbigen Lebens in ein glanzloses geworfen wird ohne jeglichen Kontakt zu Einheimischen. Die in ihren Liebes-beziehungen zu Anwar und Tamer scheiterte. Anwar, der nicht gewillt war, sie zu heiraten. Dessen biologisch-rassistisch-reaktionäres Argument mich frösteln macht: er wollte Nadschwas genetisches Erbe, das Blut ihres Vaters, nicht in den Adern seiner Kinder fließen sehen. Also auch nur ein Lebenslügner, kein aufgeklärt-rationaler Systemveränderer, als den er sich selbst so gern sah.

Und doch bleibt die weibliche Hauptfigur irgendwie blass und blutleer, mir fehlt kämpferischer Geist. Ein Auflehnen gegen ihr Schicksal, statt es passiv-depressiv zu akzeptieren.

Als LeserInnen mögen wir diesen Lebensweg nicht nachvollziehen können: wir leben selbst meist ein rationales, areligiöses, angeblich zeitgemäßes Leben und uns erscheint der Islam als eine Religion der Unterwerfung. Was das arabische Wort ja explizit bedeutet. Sich ergeben in den Willen Gottes. Eine sich unterwerfende Unzeitmäßigkeit. Wobei wir vergessen, dass bei uns in früheren Zeiten Nonnen Jesus als ihren Bräutigam sahen und heute die evangelikalen Sekten und die esoterischen New Age-Gruppen, die Hinwendung zum buddhistischen Karma-Glauben und das Pilgern in Guru-Ashrams sprießlich gedeihen und genau das widerspiegeln, was die Suche Nadschwas uns klar macht: die Sehnsucht nach etwas Höherem, das uns Sinn gibt, dem wir uns gern unterordnen.

Deutlich zeichnet die Lektüre die Ungeborgenheit des Fremden in unserer Gesellschaft auf, die Innenräume durch Entfremdung und Marginalisierung. So wenden sich viele Migranten wieder ihrer angestammten Religion zu. Als Gegenentwurf zur Schnelllebigkeit unserer „Modernen Zeiten“ und den Ego-Trips der sog. Selbstverwirklichung. Back to the roots.

Gewiss werden manche LeserInnen dieses „Zurück“ als rein rückwärtsgewandt sehen und es dem Islam als weiteres Negativum zuordnen. Es ist jedoch wichtig, über die Beweg-gründe der Einzelnen nachzudenken und die eigene gedankliche Verkapselung zu hinterfragen.

„Die richtige Größe für seine eigene Welt zu haben und darum zu wissen, dass man selbst und die eigene Welt keineswegs festgeschriebene Dimensionen haben.“ (Jeanette Winterson)

(Almut Scheller-Mahmoud)

mimarettBibliografie:

Leila Aboulela
Minarett
Hardcover, 340 Seiten
978-3-03925-005-9 (ISBN)
24,90 €