Cover KaestnerDerGangvordieHundeWir kennen den Director’s Cut als die Version eines Films, die der Regisseur einige Jahre später auf die Leinwand bringt, so wie er sie sich gewünscht hätte. Bei Büchern gibt es das eigentlich nicht. Sicher, der Urfaust ist uns allen bekannt. Zum Faust steht er aber, wie der Rohdiamant zum Collier. Johann Wolfgang Goethe sah eben in der letzten Version sein Meisterwerk.

Dass es dennoch und sogar posthum so etwas wie einen Directors Cut in der Literatur geben kann, zeigen uns nun der Atrium Verlag und Thomas Kästner. Mit „Der Gang vor die Hunde“ liegt jetzt die Urfassung von Erich Kästners Meisterwerk „Fabian“ vor. Dabei war letzterer aber in den Augen des Autors wohl keineswegs der Feinschliff des ersten. Nicht nur den Titel hatte er sich anders vorgestellt. Die aktuelle Ausgabe ist die unveränderte und ungekürzte Version des Manuskripts, wie sie Kästner 1931 beim Verlag abgegeben hat. Der Kästner-Experte Sven Hanuschek hat laut Auskunft des Verlags diese Urausgabe, die bis vor kurzem noch im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar schlummerte, Wort für Wort rekonstruiert.

Alle Fabian-Enthusiasten seien mit den Worten des Autors beruhigt: Das Buch ist weiterhin „nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind“. Die geniale Gesellschaftssatire im Berlin der späten zwanziger Jahre verliert auch in der Urfassung nichts an Schärfe, Ironie und Treffsicherheit. Der Roman um den arbeitslosen 32-Jährigen Germanisten Dr. Jakob Fabian, der noch auf den Sieg der Anständigkeit wartet, skizziert weiter das Bild einer großstädtischen Gesellschaft im politischen und erotischen Ausnahmezustand.

Gegenüber „Fabian“ hat „Der Gang vor die Hunde“ nicht nur einige zusätzliche teilweise heftige und scharfe Textpassagen zu bieten. Die Nachworte von 1931, von denen nur eines unter dem Titel „Fabian und die Sittenrichter“ in der Zeitschrift „Weltbühne“ erschien sowie die Vorbemerkungen von 1946 und 1950 komplettieren das Werk. Und wem das nicht genügt: Das ausführliche  Nachwort Hanuscheks gibt nicht nur die Sicht auf die Umstände frei, die zur Entschärfung des Manuskripts führten, sondern öffnet auch den Blick für die Verhältnisse in einem Verlagshaus jener Zeit. Spannend dabei ist unter anderem die Meinung von Curt Weller, 1931 Kästners Lektor, zum Manuskript: „Freilich“, schrieb er ihm, „es wird heftig angegriffen werden, aber dagegen steht ihre leidenschaftliche Ehrlichkeit, die durch ihre Lyrik bekannt genug geworden ist.“ Und im Gutachten des Lektors heißt es: „Dass der grundehrliche Charakter Kästners dem Leser mitunter abstoßende und erschreckende Situationen zumutet, ist nicht Schuld des Verfassers, sondern Schuld der Zeit.“ Warum gerade auch Weller schließlich für die Entschärfung des Manuskripts eintritt … Dieses und noch viele andere Details stehen im Nachwort Hanuscheks.

Ein echtes, neuentdecktes Meisterwerk.

Über den Autor:Foto_kaestner_erich

Erich Kästner, 1899 in Dresden geboren, begründete gleich mit seinen ersten beiden Büchern seinen Weltruhm: „Herz auf Taille“ (1928) und „Emil und die Detektive“ (1929). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden seine Bücher verbrannt, er erhielt Publikationsverbot, sein Werk erschien nunmehr in der Schweiz beim Atrium Verlag. Erich Kästner erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, etwa den Georg-Büchner-Preis. Er starb 1974 in München.