Mia Couto: Der Kartograf des Vergessens

Mia Couto ist hierzulande nicht sehr bekannt. Das ist bedauerlich, schreibt er doch als weißer Portugiese über das hauptsächlich schwarze Mozambik, sein Geburtsland. Er wuchs also in zwei Kulturkreisen auf. Couto ist Schriftsteller und Biologe und bewegt sich in zwei verschiedenen Milieus.

Er lehrt als Professor an der Uni Biologie, bei seinen Feldforschungen schließt er die Geschichten der Bewohner mit ihren Mythen ein, sie sind Grundlage seiner Romane.

Der vorliegende Roman beschreibt alternierend Verwirrendes in verworrenen Zeiten in einem verworrenen Land in den Jahren 1973 und 2019.

Der Dichter Diogo Santiago kehrt auf Anraten seines Arztes in seine Geburtsstadt zurück, um seine Depressionen zu heilen.

Durch eine Lesung lernt er die Moderatorin Liana Campos kennen, die ihm Dokumente der portugiesischen Geheimpolizei übergibt. Diese helfen ihm und ihr bei der Entwirrung ihrer Erinnerungen und ihrer Leben, denn ihr Großvater war der Inspektor der portugiesischen Geheimpolizei, der seinen Vater verhaftete.

Dies wird zu einer Reise durch das Dickicht schwarz-weißer Verknüpfungen familiärer, emotionaler, gesellschaftlicher und politischer Art.

Die Einzelschicksale, die alle möglichen Varianten präsentieren – von Liebe und Leidenschaft, von Untreue und Verrat, von Selbstmord und Mord – sind geschickt miteinander verwoben und bilden so ein Sittengemälde der kolonialen Zeit.
Diese Zeit mit ihren Machthierarchien und Massakern ist immer präsent, direkt oder indirekt, denn sie formte die Menschen: die weißen wie die schwarzen.

Couto gelingt es meisterhaft diese verschiedenen Ebenen darzustellen, so dass man sowohl ein Bild der weißen Gesellschaft damals und heute bekommt als auch eintaucht in die afrikanische Welt mit ihren mythischen Bündnissen. Und doch hätte ich mir mehr Stringenz gewünscht, um den Lesegenuss zu steigern. Die eingefügten, trocken-bürokratischen Dokumente sind zwar aufschlussreich und ein adäquates Hilfsmittel für „das Erinnern und das Vergessen“, aber sie verwirren auch, weil man zu oft zurück blättern muss, um den Schicksalfsäden der Menschen folgen zu können.

Eine wichtige Lektüre, die zum Nachdenken über den Kolonialismus und seine Auswirkungen bis heute anregt und eben auch über das westliche Konstrukt „Afrika“. (Kleine Fakten zu Mozambik: 1975 unabhängig, 16 jähriger Bürgerkrieg, immer noch eine hohe Analphabetenrate, AIDS war und ist ein Problem. Es werden über vierzig Sprachen gesprochen).

Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden. Søren Kierkegaard

Almut Scheller-Mahmoud

kartograf-coverBibliografie:

Der Kartograf des Vergessens
von Couto, Mia

Erscheinungsdatum: 11.09.2023
Hardcover, Gebunden
ISBN: 9783293006119
Unionsverlag