Living in one land, dreaming in another

Jadd Hilal: Flügel in der Ferne

Dieser Titel einer Ausstellung von Shirin Neshat könnte das Motto dieses frauenbewegten Romans sein, der in alternierenden Puzzleteilen das Leben von vier Frauen beschreibt. Von Naïma und ihrer Tochter Ema, ihrer Enkelin Dara und ihrer Ur-Enkelin Lila. Frauenschicksale eines zerrissenen Lebens, in einem zerrissenen Land. Wie eine Patchworkdecke sind Geburten, Trennungen und Todesfälle miteinander verwoben.

Die Zuordnung der mosaikartig angeordneten Textfragmente – mal ausführlicher, mal kurz – finde ich etwas verwirrend, werfen mich immer wieder zurück: Who is who? Und wer war wann wo?
Jadd Hilal ist selbst libanesisch-palästinensischer Abstammung, also prädestiniert dazu, diese generationsübergreifenden Familienbande plastisch zu schildern.
Im Hintergrund spielen zwei weltgeschichtliche Akteure mit und sind letztendlich ausschlag- gebend für die zerrissenen Biographien der vier Frauen: die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser aus ihrem angestammten Gebiet durch die Israelis und der libanesische Bürgerkrieg, auch er indirekt durch die Nakba beeinflusst, denn die Vertreibung der PLO aus dem Libanon, die wiederum zuvor nach dem sog. Schwarzen September aus Jordanien vertrieben worden war, war der Auslöser. Und das Land ist bis heute – 2021 – nicht zur Ruhe gekommen. Immer wieder flackern Kleinkriege und Kämpfe auf in diesem mediterranen Land, in dem Christen maronitischer Prägung und sunnitische und schiitische Muslime um die Macht ringen und kämpfen.
Die Frauenschicksale aber sind eng mit den Charakteren ihrer Männer verbunden. Diese treten zwar nur in Nebenrollen auf. Sie neigen aber alle in irgendeiner Form zu Gewalt und erzwingen Anpassung und Unterwerfung. Somit sind sie ein Spiegelbild der gesellschaftlichen und politischen Realität. Zerrissene Seelen, die vertrieben werden und die flüchten. In andere Länder, aber auch in Alb- und Tagträume.

Deutlich werden die kriegerischen Rivalitäten der diversen Milizen und Militärs geschildert, die Instabilität eines Landes „mittendrin“. Aber auch die Privilegien gewisser Schichten, zu denen die UNO-Mitarbeiter und die anderer internationaler Organisationen zählen. Sie leben in „Gated Communities“, mit Privatchauffeur, Spesen für dies und jenes und früher Pensionierung. Weit entfernt von der Realität der Landesbewohner, ob Einheimische oder „Zugewanderte“. Die Beamten werden evakuiert, der Rest, die gewöhnlichen Libanesen, müssen bleiben. Warum? Sie sind keine Auserwählten, sie sind nur Statisten im „Big Game“. Und es wird offen dafür plädiert, die UNO abzuschaffen. Wozu einen Sicherheitsrat, in dem fünf Staaten (von denen keiner ein sog. Entwicklungsland ist) über 187 Staaten entscheiden.

Faszinierend für die LeserInnen ist die Liebe zum Land, zum Libanon, zur „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. So ist das Hin und Her z.B. für Dara ein Tauziehen zwischen liba- nesischer Lust am Leben und dem europäischen Verantwortungsbewusstsein und der geregelten Ordnung. In Ländern wie dem Libanon herrschen Unordnung und Großzügigkeit, man besitzt wenig und gibt gerne.

Bezeichnend sind die Szene auf dem Schiff, das Evakuierte nach Zypern bringen soll.
Eine Sängerin stimmte das Lied „Al Busta“ der über die Grenzen Libanons hinaus berühmten und verehrten Fairuz an, die Passagiere jubeln, weinen, stampfen, applaudieren, als ob ein Ozean menschlichen Leids zu einer Stimme wird.
Das Buch schließt mit Lilas Traum vom „durch die Lüfte fliegen“ wie die Vögel. „Als ich die Augen wieder öffnete, war ich wie ein Vogel, hatte Flügel, die die anderen nicht besaßen“.
„Füße, wofür brauche ich Euch, wenn ich Flügel zum Fliegen habe.“ Frida Kahlo

Jadd Hilal Flügel in der Ferne

Die Träume, die Sehnsucht, Heimat, aber auch die frauenfamiliäre Verbundenheit – das ist die Quintessenz dieses Romans, der durch diese vier Frauen das Schicksal der Frauen in Krisen- und Kriegsgebieten verdeutlicht. Und gerade in der heutigen Zeit ist Heimat ein Zustand, nach dem wir uns sehnen, vielleicht unterschwellig, weil wir ja alle mobile Weltbürger sein wollen. Und ich schließe mit Worten des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish:
„Ich lernte alle Wörter und habe sie alle zerteilt, um ein einziges Wort zu schaffen: Heimat. “
So können wir als Leserinnen und Leser alle Wörter dieses kleinen Romans zerteilen und jede und jeder kann etwas ganz Persönliches finden. Mag es die Wut auf Kriege sein. Mag es Heimat sein. Mag es der Ikarus-Traum sein. Mag es die Lebenslust und die Lebensfreude sein.

(Almut Scheller-Mahmoud)

flügelJadd Hilal
Flügel in der Ferne
Aus dem Französischen von Barbara Sauser
Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-03925-014-1
202 Seiten, € 22.00 / Fr. 27.50

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