Mark Billingham: Die Lügen der Anderen

Kein anderes Land steht in so starker Verbindung mit dem Genre der Kriminalgeschichte wie England und keine Stadt so wie London. Dieses Umstandes ist sich Mark Billingham wohl bewusst und er macht keinen Hehl aus seinem britischen Erbe. So beginnt „Die Lügen der Anderen“ zunächst auch fast wie ein klassischer Agatha Christie-Roman: Drei britische Pärchen treffen sich im Florida-Urlaub am Pool, trinken und betreiben Smalltalk in kühl-distanzierter Weise. Doch ein schockierender Mord an einem jungen Mädchen bringt den Ferienalltag plötzlich ins Wanken.

Alle sechs Figuren wirken auf irritierende Weise allzu schockiert oder allzu kühl… Who has done it?

Jeder Mensch verbirgt hinter seiner Alltagsfassade auch größere und kleinere Geheimnisse. Was der Einzelne dabei zum Vorschein kommen lässt hängt häufig davon ab, welche gesellschaftlichen Reaktionen er zu erwarten hat. Auch dieses Thema ist typisch für den britischen Kriminalroman, wird von Billingham aber in einer düsteren, fast misanthropischen Weise aktualisiert. Schon auf den ersten Blick wirkt keiner der Protagonisten vertrauenswürdig oder sympathisch. Sexuelle Obsessionen, Alkoholismus und neurotische Wesenszüge arbeitet der Autor im Verlauf immer deutlicher heraus. Aus wechselnden Perspektiven bekommt der Hörer immer tiefere Einblicke in verschrobene Verhaltensmuster und Eheprobleme. Stück für Stück eröffnen sich Abgründe hinter einem Geflecht aus Lügen.

Die bodenständige Sprache wurde von Peter Torberg souverän ins Deutsche übertragen. Stilistisch zieht der Autor viele Register. Geschicktes Springen zwischen Zeit und Ort, unmittelbar vor und nach dem Mord sowie nach der Rückkehr der Protagonisten nach London, geben Tempo und Dynamik, ohne unübersichtlich zu wirken. Gespräche in der Gruppe, Innenschau und Paargespräche bieten nicht nur Abwechslung, sondern bringen als wesentliche Erzählelemente die einzelnen Ebenen der Verlogenheit erst zum Vorschein.

Stefan Kaminski transportiert Stimmung und Handlung des Romans in der Hörbuchfassung eindrücklich. Ihm gelingt wie nur wenigen die Gratwanderung zwischen ausdrucksstarker Charakterzeichnung und professioneller Unaufgeregtheit, die das Hörerlebnis zu einem echten Genuss macht. Jede Figur erhält auch stimmlich ihren ganz eigenen Charakter und die Sympathien und Abneigungen zwischen den Personen sind stets klar herausgearbeitet. Vor allem hat Kaminski einen leider allzu häufigen Fauxpas vermieden, indem er die Innensicht des Täters wunderbar neutral spricht, sodass die Spannung bis zum Schluss erhalten bleibt.

Ein spannender Krimi und ein düsteres Psychogramm, mit vielen klassischen Elementen und der einen oder anderen augenzwinkernden Reminiszenz an alte Meister. Es gelingt vortrefflich den Leser im Ungewissen zu halten und ihn mit falschen Fährten zu verführen und nur die, zugegebenermaßen überraschende, Auflösung wirkt ein klein wenig zu konstruiert. (Tobias Schudok)

Hörprobe: