William Turner (1775-1851) galt bereits als einer der größten Künstler der Romantik, als er Publikum und Kollegen der Royal Academy mit seinen energiegeladenen, fast abstrakten Seestücken zu verstören begann. In einer Zeit, zu der das süßlich Schöne als Ideal der Kunst galt, lösten Turners, von grauen Nebelschwaden fast verdeckte, windgepeitschte Wellenberge Spott und Irritation aus. Doch im England der sozialen Regeln und des guten Benimms stieß auch Turners verschrobener, unsteter Charakter so manchen Zeitgenossen vor den Kopf.
Mike Leigh nimmt sich der zweiten Lebenshälfte dieses Ausnahmekünstlers – und -menschen an und untersucht zugleich eine Gesellschaft, die zwischen alten Traditionen und Aufbruchsstimmung, zwischen vornehmer Etikette und Technikbegeisterung schwankt.
In zahlreichen lose verbundenen Momentaufnahmen erleben wir Turners (Timothy Spall) Alltag, zu Hause, im Atelier oder an der Royal Academy. Wir erfahren von der Liebe zu seinem Vater William Turner Senior (Paul Jesson), von gesellschaftlichen Verpflichtungen an der Akademie und bei privaten Treffen in seinem hochgestellten Bekanntenkreis. Nicht zuletzt von seiner späten Liebe zu Sophia Booth (Marion Bailey).
Die Malerei Turners wird dabei kaum fokussiert, vielmehr richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Privatperson. Timothy Spall spielt überzeugend und mit viel Leidenschaft einen erstaunlich grobschlächtigen, wortkargen Menschen, der zu Fachsimpeleien über Malerei auf Teeparties kaum mehr als ein abfälliges Grunzen beizutragen hat und in seinem groben äußeren und durch seine verwaschene Aussprache kaum in die Nähe einer idealisierten Vorstellung vom romantischen Künstler gerät.
Wir erfahren, dass Turner seine unehelichen Kinder verleugnet und sich an seiner Haushälterin Hannah Danby (Dorothy Atkinson) sexuell vergeht, was diese aus Bewunderung und verzweifelter Verliebtheit duldet – es fällt schwer diesen Turner zu bewundern. Zugleich ist er aber zu großer Leidenschaft fähig, weint herzzerreißend am Sterbebett seines Vaters und über das Schicksal der jungen Prostituierten, die er als Aktmodell bezahlt. Bisweilen rezitiert er Gedichte oder singt zum Klavier, doch die romantische Leidenschaft seines Handelns steht dabei immer im Widerspruch zu seinem sonstigen Auftreten. Um sich zu erholen und seine Seestücke zu skizzieren verbringt er regelmäßig Zeit in der Pension von Mr. Booth im Küstenstädtchen Margate. Die aufrichtige Liebe, die er später zur Witwe Booth entwickelt stimmt ein wenig versöhnlich mit dem Menschen hinter dem Künstler der Licht, Farben, moderne Technik und die See in so kraftvoller Weise in seinen Bildern verewigte.
Durch Turner und sein Umfeld ist dieser Film auch ein Epochen-Portrait, die Manieriertheit der Oberschicht, die von Turner immer wieder gebrochen wird, schwingt in beinahe jedem Dialog mit, die strengen Kostüme, die in Deutschland leicht mit dem Begriff Biedermeier assoziiert werden können, unterstreichen den Eindruck einer oberflächlichen Aufgesetztheit, die die romantische Kunst als Möglichkeit der Flucht ins Informelle hervorbrachte. Technikbegeisterung und Fortschrittsglaube waren dabei allgegenwärtig, Turner selbst malt nicht nur mit Begeisterung Eisenbahn und Dampfschiffe, er reist auch sehr gerne damit und ist fasziniert – als Maler aber auch verunsichert – als er im Alter erstmals einen Portraitfotografen aufsucht.
Inszeniert ist der Film, ohne allzu viele Schnörkel, die Klangkulisse ist dezent und die Kameraarbeit solide. Einzelne brillante Landschaftsaufnahmen stechen besonders hervor, und setzen das Ästhetikverständnis der Romantik mit den Mitteln der Filmkamera um, nehmen dabei aber leider keinen Bezug zu Turners eigenem emotionalen Stil, sondern lassen eher an einen Caspar David Friedrich denken. Auch die Dramaturgie des Films ist durch die Episodenhaftigkeit und den Fokus auf eindringliche, statt dynamische Bildsprache leider etwas flach. Turners wildes Temperament zeigt sich wenn er im Atelier auf die Leinwand spuckt oder in der Akademie seine Kollegen zu verstören versucht, indem er scheinbar sinnlos einen roten Fleck auf sein Landschaftsgemälde klatscht. Der Film selbst vermittelt die Energie Turners Bilder leider kaum, möchte dies aber auch nicht. Mike Leigh bietet vielmehr eine interessante und ungewöhnliche Charakterstudie und ein überzeugendes Epochenportrait, das dem Kunstinteressierten viel Spaß machen kann. (Tobias Schudok)
Filmographie
Mr. Turner – Meister des Lichts
Ein Film von Mike Leigh
England 2014
149 Minuten
Kinostart in Deutschland: 6. November 2014
Im Verleih von Prokino