Orins stiller Tod.

Shichiro Fukazawa: Die Narayama-Lieder

Dieses kleine Büchlein, editiert vom Schweizer Unionsverlag, ist eine Preziose:
Die Gestaltung des Einbands, die biographischen Notizen zum Autor und die Ausführungen des Übersetzers und natürlich der eigentümliche, außergewöhnliche Text selbst mit dem Anhang der vom Autor komponierten und getexteten Lieder, die oft mit spöttischem Unterton das Dorfleben illustrierend in den Text hineingewebt sind.

Eigentümlich, weil er eine ungewöhnliche Schilderung ist, wie aus der Zeit gefallen, aus einer archaischen Landschaft, aus einer archaischen Zeit. Eine archaische „Triage“, ein Senizid.

Und doch atmet der kleine Text Lebensfreude, denn Orin, die 69-jährige alte Frau, hat es akzeptiert, dass sie mit 70 auf den Berg geht, nicht dumpf, nicht aufbegehrend gegen die Tradition, sondern freudig als Lauf des Lebens, als unausweichliches Schicksal.

Für uns moderne Menschen ist Orin eine Geisel archaischer Traditionen und die Triage gerade in den aktuellen pandemischen Zeiten ein Stich in das Wespennest unseres modernen Egos.

Orin, die Hauptperson, lebt mit ihrem verwitweten Sohn Tatsuhei und den vier Enkeln in der „Wurzelhütte“. Seit 50 Jahren lebt sie dort, ihr Mann ist vor 20 Jahren gestorben. Das kleine Dorf besteht aus 22 Hütten, alle „getauft“, z.B. „Salzhaus, Feuerfichter, Regenhütte. Eisenhütte, Münzlager“. Jeder Name steht für eine eigene Geschichte.

Das karge Hochland bietet den Dörflern kaum Abwechslung bis auf das Bon-Fest, bei dem die Ahnen für drei Tage im Diesseits mit Tanz empfangen werden. Und natürlich Neujahr und das Narayama-Fest. Es gibt nur magere Ernten, die Hochtäler bieten nur wenig Anbauflächen. Das bedeutet knappe Ressourcen, und Nahrungsmittel-Diebstahl ist eines der großen Tabus im sozialen Gefüge. Beim Narayama-Fest, das nur einmal im Jahr gefeiert wird, wird jedoch üppig getafelt: die Früchte der frühen herbstlichen Ernte und die kostbarste Delikatesse überhaupt, weißer Reis, auch Heiliger Weißer Buschklee genannt. Dazu wird Reiswein kredenzt.

Orin freut sich auf das Fest, kann sie doch endlich wie alle Alten „auf den Berg gehen“, die wichtigste Reise ihres Lebens antreten, den Weg hinauf zum Göttlichen Berg, sieben Täler und drei Seen passierend. Sie ist bereit, denn sie hat für ihren Sohn eine neue Frau gefunden, eine warmherzige, mütterliche Frau, Tamayan. Aber auch ihr 16-jähriger Enkel Kesakichi hat sich schon verfrüht eine Frau gesucht, Matsuyan von der Teichhütte. Im Dorf heiratet man spät, jedes neue Familienmitglied ist ein Esser mehr im essenknappen Dorfleben.

Der Winter nähert sich. Der mehr denn je eine Herausforderung ist, denn nun gibt es zwei Personen mehr, die essen wollen, zumal Matsuyan gefräßig wie ein Bär ist (kein Wunder, denn sie ist bereits im fünften Monat schwanger).
Orin langweilt sich, fühlt sich überflüssig mit den zwei neuen Frauen im Haus und sehnt sich nach der Reise zum Göttlichen Berg. Endlich gibt ihr Sohn schweren Herzens sein Einverständnis, ob-wohl die Schwiegertochter meint, man solle das kommende Baby von Tamayan opfern.

Orin lädt alle, die bereits auf dem Berg gewesen sind, zum Abschiedstrunk. Sieben Männer und eine Frau erscheinen in ihrer Hütte, geben Abweisungen und Erklärungen, nehmen Gelübde ab.
So ist es Brauch.

Es gibt drei Regeln:

  1. unterwegs nicht sprechen.
  2. niemand darf sie beim Aufbruch sehen,
  3. der Begleiter darf bei der Rückkehr vom Berg nicht zurück blicken

( Reminiszenzen an Lots Frau und Orpheus?). Und sie geben eine exakte Wegbeschreibung für den Weg zum Berg, wo „der Gott Euch erwartet.“ Einer gibt Tatsuhei im Geheimen den Tipp: es reiche schon bis zu den sieben Tälern, ein Rat, den Tatsuhei erst auf dem Rückweg versteht

Orin will fort, ermahnt den Sohn, der sie über die sieben Täler, wo es nur einen und doch keinen Weg gebe, (die Symbolik des Unterwegsseins und des finalen Ankommens?) bis auf den Berg, wo der Gott wohnt, trägt. Unterwegs sieht er tote Menschen, Gerippe, Krähen, und immer mehr Krähen, je höher er mit seiner Mutter auf dem Rücken kommt.

Auf dem Berg, wo der Gott wohnt, legt Orin ihre gewebte Matte zurecht und legt ein Bällchen weißen Reis darauf. Sie schiebt den Sohn in Richtung Abstieg und drückt fest seine Hände.
Tatsuhei torkelt weinend abwärts. Er dreht sich nicht um. Doch dann beginnt es zu schneien, und er will dieses Glück mit seiner Mutter teilen, denn sie war immer davon überzeugt, dass es schneien würde, wenn sie auf den Berg, wo der Gott wohnt, geht. Er sieht sie beten, die Matte um sich gelegt, vom Schnee umhüllt. Und es gibt keine Krähen. Orin schickt ihn zurück.
Und auf dem Rückweg begegnet er bei den sieben Tälern dem Sohn des Nachbarn, der seine Trage abschnallt und den Vater hinabstürzt.

Das Schlussbild als „Das Leben geht weiter“-Sinnbild: der Enkel sitzt betrunken in Orins ge-füttertem Wattemantel, seine Frau trägt Orins Stoffgürtel. Und er sagt: Oma hat Glück: es schneit.

In diesem kleinen Roman des japanischen Autors ist alles enthalten, was das menschliche Leben mit seinen ewig-gleichen Facetten, immer und überall gültig, ausmacht: Liebe, Zuneigung und Trauer, Sorge und Neid, Schicksalsergebenheit und Auflehnung, existenzielle Nöte, bindende Rituale, Würde und Erbarmen. Und der Tod. Der präsent ist als Teil des Lebens. Und der in unseren modernen Zeiten verdrängt wird, nur durch Schlagzeilen von Kriegen und von Pandemien in die Schlagzeilen kolportiert wird, bis er wieder verschwindet aus unserem kollektiven Bewusst-sein. Ihn auszuschließen aus unserem Leben ist Eskapismus.

Ganz wunderbar die Erzähl-Sprache: schlicht und klar mit naturnahen poetischen Einsprengseln (z.B. zum Schnee, zu Kastanien, zum weißen Reis). Eine Sprache, die sich nicht überbordend in manirierten Sentimentalitäten verliert, sondern uns mitfühlend, miterlebend und nachdenklich berührt, mit der Frage verbunden:  Ist es Fatalismus, ist es Gott-Ergebenheit?  Oder Weisheit, erkennend, dass jeder Lebensfaden einmal sein Ende erreicht?

In vielen Märchen und Mythen der meisten Völker, besonders bei den Indianern, Eskimos und anderen arktischen Gesellschaften, gibt es die Altentötung. Und es ist Fukazawa hoch anzurechnen, dieses Phänomen so wunderbar einfühlsam und plastisch in Literatur verwandelt zu haben.
Für mich ist Orin eine Heldin. Eine lebensfrohe, mutige Frau, die ihren Weg erkennt und ihn konsequent verfolgt und als Opfergang für ihre Familie zu Ende geht. Gekrönt von der letzten Freude: dem Schnee.
Fukazawa bezeichnet das Alter als „das Herumtrödeln auf dem Weg zur Unterwelt“.
So sollten wir, die Leserinnen und Leser, das Herumtrödeln genießen, uns der kleinen Dinge des Lebens erfreuen, z.B. Bücher wie diese als Schätze zu entdecken in der Flut der mediokren Publikationen.

PS.: Zum Autor. Er war ein Außenseiter in Japan. Ein Mensch, der autodidaktisch das Gitarrenspiel lernte, es bis zu Solokonzerten brachte. Der Chrysanthemenzüchter war, ein Bauer und Selbstversorger, der den „Traumladen“ – eine Imbissbude für Pfannkuchen führte und der schwarzhandelte. Und der einige wenige Bücher schrieb und Lieder komponierte.

Noch eine musikalische Preziose: Zu der Lektüre des Aufstiegs auf den Berg, wo der Gott wohnt: die klirrendkalte Flötenmusik von Tôsha Suihô aus seiner winterlichen Interpretation des Vier-Jahreszeiten-Zyklus anhören.

(Almut Scheller-Mahmoud)

NarayamaBibliografie:

Shichiro Fukazawa
Die Narayama-Lieder
Mit einem Nachwort von Eduard Klopfenstein
Aus dem Japanischen und mit einem Nachwort zur Übersetzung von Thomas Eggenberg
128 Seiten
ISBN-13: 978-3-293-31038-4
€ 16.99
Unionsverlag