Universitas rerum – Die Gesamtheit aller Dinge

Patrick Deville: Pest & Cholera

Wie in allen anderen Büchern von Deville strickt er uns eine Biografie aus bunten Fäden mit politischen, kulturellen und historischen Ausfransungen. Wieder einmal ist es ihm meisterlich gelungen, eine Lebensgeschichte, die des Alexandre Yersin, dem Entdecker des Pestbazillus, zu einer spannenden und vor allem lehrreichen Lektüre aufzubauen, immer wieder gespickt mit glorreichen Namen jener Zeit wie Rimbaud, Céline, Loti, Cendras, Verne, Gide, Leiris, Miró, Albert Schweitzer, Baudelaire, Eiffel, Saint-Exupéry, Conrad, Brazza, Stanley, Stefan Zweig, Joyce, Livingstone und natürlich Pasteur.

Es ist eine detailreiche Biographie des genialen Yersin, der nach medizinischem Studium in Marburg und Berlin, wo er für Robert Koch arbeitete, zu Pasteur nach Paris geht. In ihm, dem Entdecker der Tollwut-Impfung, findet er seinen Meister, seinen spiritus rector. Doch Yersin, ein geborener Schweizer, ist ein unruhiger Geist, ohne limitiertes Denken und ohne limitierte Horizonte. Paris war die Welthauptstadt der Medizin, das Zentrum der Mikrobilogie und Bakteriologie und nicht nur auf diesem Feld spielte sich die alte Feindschaft Frankreich-Deutschland ab. Es ging um Einfluss in Afrika und Asien. Auf dem Berliner Kongress wurde Afrika aufgeteilt. Nach fünf Jahren Paris heuert er als Schiffsarzt auf der „Volga“ an, die zwischen Saigon und Manila pendelt. Er liest viel, Livingstone ist für ihn ein Vorbild, er beschäftigt sich mit Astronomie, Drachenbau, Vulkanologie, macht erste ethnologische Beobachtungen. Und er findet, ohne es zu suchen, sein ganz persönliches Paradies, sein „Walden“, aber eben nicht nur auf Zeit und nicht als Experiment, sondern es wird sein Lebensinhalt: das Fischerdorf Nha Trang im heutigen Vietnam.

Er arbeitet zwei Jahre als Entdecker und Landvermesser für den Generalgouverneur von Indochina, eine quasi imperialistische Arbeit, denn er muss die Boden- und Waldschätze und Trassen für Handelsrouten ausfindig machen. Rimbaud arbeitet zur gleichen Zeit als Waffenhändler für Menelik II von Abessinien…
Und er baut sein kleines Paradies als sein eigenes Imperium aus. Hier kauft er Land. Zum Schluss sind es 20.000 ha, fast ein kleiner Staat, größer als Monaco, nur die entsprechende Hollywood-Diva fehlt. Er baut drei Häuser nach eigenen Entwürfen und erschafft sich seine eigene autarke Arche. Er baut eine Klinik und bildet die Einheimischen zu Laborgehilfen und Mechanikern aus. Er gründet ein Pasteur-Institut und interessiert sich für Ackerbau und Viehzucht, produziert seinen eigenen Strom. Er legt Kautschukplantagen an und ist mit Michelin im Geschäft, durch die Kultivierung von Chinarindenbäumen produziert er Malariamittel. Er wird Ornithologe und Orchideenzüchter. Er baut Kaffee und Tabak an, hat eine Windmühle und einen Wasserturm und braut ein belebendes anregendes Getränk – die Kola-Cannelle – das er leider nicht patentieren ließ… Er züchtet Kanichen, baut eine Straße und eine Reparaturwerkstatt für Boote und Autos. Er erforscht die Hühnerzucht, angeregt durch seine Schwester in der fernen Schweiz, und studiert, wie aus Eigelb und Eiweiß Schnabel, Federn, Füße, Flügel wachsen. Er baut eine Wetterstation, kümmert sich um Aufforstung, beschäftigt sich mit Meteorologie und der Geodäsie und zum Ende seines Lebens verfällt er der klassischen antiken Literatur: er übersetzt die Griechen und Lateiner…

Während einer Expedition ins Landesinnere kommen Hilferufe aus Hongkong: die Pest sei ausgebrochen. Früher reiste die Pest gemächlich durch die Lande: mit Karren, zu Pferd, zu Fuß. Zu seiner Zeit und heute (die momentane Corona-Krise ist ein hervorragendes Beispiel) mit Dampfmaschine-oder Düsengeschwindigkeit. Er geht einen anderen Weg als sein Konkurrent Kitasato, dem Japaner, den er aus Berlin kennt. Yersin untersucht die Pestbeulen, nach dem Anblick der toten verwesenden Ratten in der Kanalisation, während Kitasato sich auf die Organe und das Blut konzentriert. And the winner is: …… Er entdeckt den Pestbazillus und entwickelt ein Serum. Er impft den ersten Chinesen heimlich, da die Reaktion der Chinesen, nach Knechtung durch die Europäer (Opium- kriege), bei Misserfolg wohl tödlich wäre. Später wird von Simond, einem weiteren „Pasteurien“ der Floh als Überträger identifiziert. Als die Pest in Bombay ausbricht, wird Yersin gerufen. Doch es gibt wenig Erfolge zu verzeichnen, denn Imkompetenz und Profilierungsgerangel der internationalen Ärzte sowie das Kastensystem und das buddhistische Prinzip Respekt vor Leben behindern die Arbeit.

1940 kommt er von seiner letzten Reise nach Paris zurück ins Paradies, wird dort bleiben und wird dort sterben: Yersin – ein Tausendsassa im Denken, ein Einzelgänger mit Agoraphobie und doch die Menschen liebend, ein Grenzgänger und Eigenbrötler, ein ruheloser Geist, ein Visionär, ein Alleswissenwollender, ein Vollblut-Forscher, für den Nichtwissen unentschuldbar ist. Ein Hochmütiger, der verwundert ist, dass nicht alle Menschen gleich sind.

Was ist geblieben von Alexandre Yersin? Sein Paradies ist heute ein Seebad mit einem kleinen Yersin-Museum. Ein Begriff ist geblieben: Yersinia pestis. Und dieses wunderbare Buch, mit dem Deville uns einen Ausnahme-Menschen auf dem Silberteller kredenzt. Diesen Universalisten, neben da Vinci, Leibniz, Alexander von Humboldt eines der ausgestorbenen Universalgenies.
Heute herrschen Spezialisierung und Beschränktheit auf die armselige kleine Welt, die trotz der Globalisierung nicht größer geworden ist. Denn dazu bedürfte es Geist und Wissbegier, Offenheit und Objektivität. Denn es ist schrumpfender Planet, wo sich die Orte bald einander gleichen. Schon Rimbaud erkannte: überall der gleiche bourgeoise Zauber, wo der Koffer uns hinpflanzt.
Ich bin tief beeindruckt von diesem bereichernden Buch, das in fast kühler und doch höchst empathischer Schreibe, der Autor bezeichnet sich selbst als „Gespenst der Zukunft“ mit seinem Notizbuch, der die einzelnen Lebensstationen des Protagonisten aufsucht, ein Leben nachzeichnet, das den meisten von uns Lesern gewiss fremd ist. Fremd als Name, fremd in seiner betörenden Wissbegier und in seiner totalen Individualität.
Echter Fortschritt ist nur im und durch das Individuum möglich. Masse hat nie etwas Großes geschaffen. So erinnert eine Ratssitzung an die Hellsichtigkeit von Hamstern und ein Stadion an den Scharfsinn von Pantoffeltierchen. (Baudelaire)

(Almut Scheller-Mahmoud)

pest und choleraBibliographie:

Patrick Deville
Pest & Cholera
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Unionsverlag 2021
ISBN: 978-3-293-20775-2
12.95 Euro