Tragische Hoffnungslosigkeit

Mahmud Doulatabadi: Die Reise

Mahmud Doulatabadi ist ein vielseitiger Mensch. Er ist Schriftsteller, Schauspieler und Bibliothekar. Und er ist Iraner. Aufgewachsen in einer einfachen Familie, aber mit den Poemen von Ferdausi, Saadi und Hafiz. Er war u.a. Schafhirte und Friseur. Und er war zu Schahs Zeiten im Gefängnis.

So viele Lebensfacetten prädestinieren einen Menschen nicht unbedingt zum Schriftsteller, bei Doulatabadi aber fließen all diese Erfahrungen in sein Werk ein und machen ihn zum größten zeitgenössischen Epiker seines Landes.

Dieses kleine vorliegende Buch atmet Ausweglosigkeit und Trostlosigkeit, zeigt das Leben in einer iranischen Provinz, abseits der Metropolen und der klassischen Wallfahrts-Szenarien. Die Religion spielt nur am Rande eine Rolle.

Es zeigt das einfache Leben und die Welt der einfachen Menschen, eine düstere Welt, der einer der Protagonisten, Marhab, immer wieder aufs Neue entfliehen will. Er zieht von einer Arbeit zur anderen, er fühlt sich nicht zum Dienstboten und Befehlsempfänger geeignet. Rastlos zieht er von Ort zu Ort.

Bis er in einem Dorf Chatun sieht, die mit ihrer Mutter Bibi und ihrer Tochter Chawar in einem einsamen, abgelegenen Haus in der Nähe der Bahngleise lebt. Ihr Mann Mochtar ist nach Kuweit gegangen, um Geld zu verdienen, nachdem er seine Arbeit als Schmied für Dreschflegel und Handpflüge verloren hatte. Die technische Moderne hatte mit Traktoren Einzug in das Dorf gehalten.

204 Tage war Mochtar bereits fort, die kleine vierjährige Chawar hatte für jeden Tag einen Strich an die Wand gemalt, ohne dass sie bisher ein Lebenszeichen erhalten hatten, als der Gendarm mit einer traurigen Nachricht kam, dass ihr Mann ertrunken sei. Trauer und Wehklagen, aber das Leben ging weiter.

Und das Leben bescherte ihr Marhab, der, seit er sie gesehen hatte, immer um ihr Haus herumschlich. Es war ihm eine Gewohnheit geworden und wenn er sie nicht sah, fehlte ihm etwas. Bei einer Veranstaltung sprachen sie miteinander und er begleitete sie heim. Sie fühlte sich geschmeichelt, seine Herzensperson zu sein. So entwickelte sich eine Liebesbeziehung, obwohl Chatun doch eine ehrbare Frau war. Er besuchte die kleine Familie regelmäßig, schlief in dem Zimmer, das vorher das Ehegemach gewesen war. Chatun blühte auf, gurrte und sah nur Marhab. Alles andere zählte nicht. Wenn er nicht anwesend war, übernahm ihre schlechte Laune das Zepter. Bis er eines Tages nicht mehr auftauchte, sie ihn erfolglos suchte, im Teehaus, bei seinem Freund Ali.

Marhab fühlte sich gefesselt, die drei Frauen wie ein Klotz an seinem Bein. Ihre Abhängigkeit von ihm machte ihm Angst und er fühlte sich in seiner Freiheit beschnitten. Eine Verantwortung bis an sein Lebensende? Aber er hatte immerhin den Anstand, sich von Chatun zu verabschieden.

Doch es gab noch einen anderen Beobachter des Hauses, mit Krücken. Jeden Abend stand er seit 13 Tagen bei den Schienen und beobachtete das Haus. Voller Zweifel, die ihn wie Gift zerfraßen. War das sein Haus? Gingen dort Männer ein und aus?

Mochtar traf auf Marhab in der Teestube und erzählte von Kuweit, seinem Unfall, seinem Unglück. Sie waren zu 70 auf einem Boot, als dieses beschossen wurde. Einige ertranken, einige wurden erschossen. Er selbst wachte erst im Krankenhaus wieder auf, mit nur noch einem Bein. Was sollte er noch dort im fremden Land? Was konnte er dort noch arbeiten? Da gab es nur Schwarzarbeit, Schmuggelgeschäfte und Erniedrigungen.

Aber wie sollte er zu Frau und Kind zurückkehren? So wie er war, als Invalide? Untauglich? „Denn bei uns hängen Freundlichkeit und Liebe vom Geldbeutel ab.“

Mahmud Doulatabadi Die Reise

Marhab wollte fort, nichts als fort, noch seinen Zug erreichen. Der Zug pfiff. Dem Pfiff folgte das Kreischen der Bremsen. Marhab sah auf und zwischen den Gleisen eine Leiche, zerquetsch wie Hackfleisch und er sah die Krücken. Er blieb allein in Einsamkeit und Schweigen, in endlosen Augenblicken. Er nahm die Krücken auf und lehnte sich in sie und blickte auf das dunkle einsame Haus. Finsternis legte sich auf ihn.

Was will uns Doulatabadi mit diesem kleinen Roman ohne Happy End mitteilen?

Natürlich schreibt er über gesellschaftliche Zwänge, über die Ehrbarkeit und die Stärke der Frauen, über die Armut, die Menschen zu erniedrigten Emigranten macht. Er schreibt über Sehnsüchte und Träume „Ich kann nicht morgens bis abends Knecht sein und mich für ein Stück Brot verkaufen. Ich möchte wegfliegen wie ein Kondor. Ständig bin ich auf der Suche.“ Was sucht Marhab, wovor flieht Marhab? Was ist Freiheit? Ist es das ständige Unterwegssein — heute hier, morgen dort – ohne feste Bindungen?

Der originale Buchtitel „Safar“ bedeutet „Reise“. Aber in diesem Fall so gar nicht in Einklang zu bringen mit unserem eingedeutschten „Safari“, was wir ja meist mit Jagd nach Glück verbinden – Jagd-, Entdecker- und Abenteuerglück. Aber vielleicht ist es auch hier eine Jagd nach Glück. Nach dem Glück des Ankommens, des Zuhauseseins, der Geborgenheit?

Für mich beschreibt Doulatabadi diese „Safari“ in kurzen und knappen Worten, ohne dramatische Effekthascherei, fast trocken und unbeteiligt. Als Außenstehender und doch fühle ich eine tiefes Mitfühlen, eine tiefe Empathie mit seinen Figuren. Die gewiss nicht einfach nur aus dem Hirn eines Romanciers entsprungen sind, sondern lebensnahe Pendants haben.

Für diese Lebensnähe ist Doulatabadi zu danken

(Almut Scheller-Mahmoud)

reiseBibliografie:

Mahmud Doulatabadi
Die Reise
Originaltitel: Safar, Originalsprache: Persisch
Aus dem Persischen von Bahman Nirumand
Taschenbuch, 128 Seiten
ISBN-13: 978-3-293-20139-2
€ 7.90, FR 10.90, € [A] 8.20
Unionsverlag