Ein Abgrund tut sich auf – mitten in Deutschland

In jüngster Zeit demonstrierten in vielen Städten Deutschlands tausende besorgter Bürger an der Seite von Neonazis und Hooligans gegen Islamisierung und Asylantenunterkünfte. Die meisten dieser Demonstrationen verliefen friedlich, am 26. Oktober in Köln eskalierte die Lage allerdings und 49 Polizisten wurden verletzt.

Der Film „Wir sind jung. Wir sind stark.“ von Burhan Qurbani stimmt vor diesem Hintergrund besonders nachdenklich, denn er zeigt wie leicht Misstrauen und Angst in rasenden Hass und Zerstörungswut münden können. In Rostock-Lichtenhagen kam es im August 1992 zu den wohl radikalsten Ausschreitungen gegen ein Asylantenheim, seit der Wiedervereinigung. Die Polizeikräfte zogen sich vor den Brandbomben werfenden Randalierern zeitweise völlig zurück und die wenigen Bewohner, die nicht schon zuvor geflohen waren, konnten sich erst im letzten Moment retten.

Qurbani möchte mit seinem Film abschrecken, aufrütteln und ermahnen, aber auch untersuchen, wie es so weit kommen konnte. Wer sind die jungen Menschen, die so weit gehen, ein Asylantenheim in Brand zu stecken und das Mobiliar zu zerstören?

Der Regisseur präsentiert hier keine Vorzeige-Nazis sondern ganz normale Jugendliche (unter anderem Jonas Nay und Joel Basman). Sie leben kurz nach der Wende in einem verwahrlosten Teil Deutschlands, in dem vor allem die brachliegende Wirtschaft und die hohe Jugendarbeitslosigkeit den Lebensalltag prägen. Junge Menschen mit Träumen und Ängsten, die sich verlieben und herumalbern, die Sehnsucht haben nach Sicherheit, Liebe, Abenteuer und Akzeptanz – aber keine Perspektive, die diese Sehnsüchte jemals erfüllen könnte.

Dabei sind die Jugendlichen gar keine überzeugten Rechtsradikalen, sondern grölen jede beliebige Parole als Soundtrack ihrer Gewaltausbrüche, die nur Ausdruck von Verzweiflung sind. Verzweiflung über die aufgezwungene Untätigkeit, die Unfähigkeit irgendeine Handlungsweise zu finden, die ihnen gesellschaftliche Wertschätzung einbrächte – erst als das Asyantenheim brennt, jubelt man ihnen für einen Abend zu.

Der zweite Fokus liegt auf der Politik, die die damaligen Vorgänge nicht zu handhaben wusste und später durch die Medien zu vertuschen suchte.

Stellvertretend für einen ganzen Apparat steht der Politiker Martin (David Schütter). Aus Angst um seine Karriere verleugnet der schüchterne alleinerziehende Vater seine Verantwortung und sein Gewissen. So überfordert wie er damit ist, seinem Sohn eine Lebensperspektive aufzuzeigen, so überfordert ist er auch damit, als Politiker den richtigen Weg zu weisen. Als ihn sein Gewissen schließlich einholt, steht er hilflos in der Hassparolen schreienden Menge, nicht mehr in Anzug und Krawatte, sondern wie ein einfacher Arbeiter, der verzweifelt „Keine Gewalt! Wir sind das Volk!“ skandiert.

Der Film schafft eine Nähe zu dem Schrecklichen, die einem den Atem nimmt.

Aus der Perspektive der Opfer (Trang Le Hong u. a.) werden zunächst Alltagsrassismen und schließlich die Hilflosigkeit während des Angriffs erlebbar gemacht.

Technisch professionell und originell inszeniert, rüttelt dieser Film auf, indem er die schrecklichen Vorgänge lebensnah statt trocken schildert und zugleich Hintergründe und Fakten vermittelt. Die Ereignisse werden intensiv wahrgenommen, die Abläufe miterlebt – wie schnell der Hass das Handeln der Menschen leiten kann, bleibt unfassbar tragisch.

FilmographieWir sind jung_Wir sind stark_Cover

Burhan Qurbani
Wir sind jung. Wir sind stark.

Deutschland 2014
128 Min
s/w und Farbe
Kinostart: 22. Januar 2014
Im Verleih von Zorro Film