Zwischen Staub und Macht – Rashidas Aufstieg in den Abgrund
Eine Frau nimmt sich Raum in einer Welt, die ihr keinen zugesteht. Burhan Qurbanis neuer Film „Kein Tier. So Wild“ erzählt von einer inneren wie äußeren Eroberung: Rashida York drängt an die Macht – nicht aus Ehrgeiz und Gier allein, sondern aus einem Überlebenswillen heraus, der keine Rücksicht kennt. Was dabei entsteht, ist kein Gangsterdrama, keine feministische Heldinnenerzählung, sondern ein komplexer, kunstvoll gebrochener Blick auf eine Figur, die sich durch Isolation, Intelligenz und Grausamkeit definiert.
Die Handlung ist in den Berliner Bezirk Neukölln verlagert – eine durch ritualisierte Gewalt und fragile Allianzen strukturierte Welt, in der Rashida sich ihren Platz erkämpft. Kenda Hmeidan gibt dieser Figur eine physische wie emotionale Schärfe: Ihre Rashida spricht wenig, kalkuliert präzise, verschiebt und sprengt Grenzen, bis nichts mehr bleibt als das nackte Machtspiel. Ihre Herkunft, ihr Geschlecht, ihre familiären Bindungen – alles wird zur Verhandlungsmasse auf dem Weg nach oben. Der zentrale Satz „Betrogen durch Geburt um jeden Vorteil, verformt, unfertig“ zitiert Shakespeares Richard – doch Rashidas Makel ist nicht ein krummer Rücken, sondern ihr Geschlecht. Sie kämpft gegen ein System, das Weiblichkeit als Schwäche definiert – und tut dies mit einer Wucht, die ebenso befreiend wie zerstörerisch ist.
Doch Qurbani interessiert sich nicht nur für den Plot. Vielmehr legt der Film mit jeder Szene eine neue Schicht frei: Zuerst die gesellschaftliche Ordnung, dann deren Risse, schließlich das psychische Terrain der Hauptfigur. Visuell schlägt der Film einen markanten Bogen: Von engen, urbanen Räumen weitet sich das Geschehen in ein surreal entleertes Setting – ein Ort ohne Halt, durchzogen von Nebel, Staub und aufgewühlter Erde. Hier wird Rashida endgültig zur Figur der Tragödie, losgelöst von Herkunft, Ziel und Sprache.
Die Erzählweise bleibt dabei konzentriert, fast kühl. Qurbani verweigert Pathos ebenso wie moralische Eindeutigkeit. Er nähert sich seiner Hauptfigur mit Distanz, ohne sie zu entmenschlichen. Gerade diese Zurückhaltung verleiht dem Film seine Kraft. Es gibt keinen emotionalen Unterbau, der tröstet – nur eine wachsende Spannung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust.
Auch die Nebenrollen fügen sich stimmig in dieses Konstrukt: Verena Altenberger als Schwester Amina bringt eine stille Verzweiflung ein, während Hiam Abbass als Mutterfigur das kalte Rückgrat des Systems verkörpert. Die Männerfiguren hingegen bleiben unauffällig, austauschbar – eine bewusste Umkehrung klassischer Machtverhältnisse.
„Kein Tier. So Wild“ ist kein Film, der gefallen will. Er verlangt Aufmerksamkeit, fordert mit seinen Brüchen und Leerstellen, provoziert mit seiner formalen Radikalität. Wer sich ihm öffnet, erlebt eine Geschichte über Macht, Gender, Herkunft und Schmerz – erzählt in einer Sprache, die sich jeder Konvention entzieht.
Technische Daten & Mitwirkende
- Titel: Kein Tier. So Wild
- Regie: Burhan Qurbani
- Drehbuch: Burhan Qurbani, Martin Behnke
- Kamera: Yoshi Heimrath
Mitwirkende:
- Kenda Hmeidan – Rashida York
- Verena Altenberger – Amina York
- Hiam Abbass – Mutter York
- Raif Adwan – Yussuf York
- Murat Seven – Karim
- Alexander Scheer – Kommissar Wolfram
- Sascha Nathan – Anwalt von Rashida
Gernot Körner