Djaimilia Pereira de Almeida: Seebeben

Der angolanisch-portugiesischen Autorin Djaimilia Pereira de Almeida ist wieder ein kleines Meisterwerk gelungen. Ein Meisterwerk der Sprache, ein Meisterwerk der Empathie mit einem „Fremdling“. Ihr gelingt es, wechselnd in der Ich-Form und der dritten Person, das Leben des schwarzen alten Mannes Boa Morte da Silva aus Angola wie einen Fächer vor uns auszubreiten, einen Spannungsbogen zu schaffen.

Boa Morte mäandert in Selbstreflexionen und Briefen an seine Tochter Aurora durch sein Leben.

Das Leben eines Vergessenen, eines Heimatlosen, der sich in den Straßen Lissabons, im Viertel Chiado seinen Lebensunterhalt verdient. Als Parkplatzwächter, eine entfremdete, entfremdende Existenz.

Es ist die Geschichte eines Mannes, der seine Position in einem Büro aufgab, um sich der kolonialen portugiesischen Armee zu verpflichten, in der Hoffnung, ein anerkannter Portugiese zu werden. Er hat getötet: die eigenen Blutsbrüder und Landsleute, wahllos. Ein Kamerad starb in seinen Armen. „Ich habe ihn sterben lassen, um mich selbst zu retten.“ Alles im Namen des „Vaterlandes“. Seine Frau, mit dem Baby auf dem Rücken, hat ihn verlassen. Sie hatte ihn gewarnt: „Du wirst nie Portugiese sein, die Weißen haben dich benutzt, wie sie uns alle benutzt haben.“ Er hätte sie getötet, wenn nicht ein Nachbar dazwischen gegangen wäre. Wer will schon der Wahrheit ins Gesicht sehen. Er sah sie nie wieder. 1979 seine „Heimkehr“ in das nie gesehene „Vaterland“. „Aber niemand hatte den Tisch meines bettelarmen Vaters gedeckt, niemand ihm mitgeteilte, dass ich käme.“

Sein vergangenes und sein jetziges Leben spulen sich wie ein Film durch seine Gedanken.

Nun schreibt er das Drehbuch seines Lebens. Er fühlt sich von der Stadt geschwängert, wenn er mit vorgewölbtem Nabelbruch-Bauch durch die Straßen Lissabons streift: Chiado. Rua Nova do Almada, Rua do Loreto.Rua do Alecrim, Largo de Camões und immer wieder António Maria Cardoso. Buchläden, Restaurants, Bäckereien, Menschen im Laufschritt. Keiner beachtet ihn. Aber er registriert offenen Auges seine Stadt, die Veränderungen, die Menschen und ihre Gleichgültigkeit. Ein Fremder, in einem fremden Land, in einem fremden Leben.

Und doch gibt es einige Lebewesen, die ihm nah sind, denen er nah ist.

Da ist Fatinha, ein Mädchen, schwarz wie er, aus Sáo Tomé und Príncipe, das an einer Straßenbahnhaltestelle der Linie 28 lebt. Sie ist erst 20, hat Diabetes, redet wirres Zeug, ist ungekämmt und riecht ungewaschen, ist dick von Wein und Bier. Sie nennt ihn ihren Prinzen und die Haltestelle ihren Palast, in den sie manchmal imaginierte Gäste einlädt.

Da ist Vando, ein junger Drogensüchtiger, für den er wie ein Vater ist, der sich mit Boa Morte einen Gemüsegarten außerhalb der Stadt aufbaut. Freude am Sprießen und Gedeihen der Pflanzen, Gott vollbringt in der Dunkelheit des Beetes seine Wunder. Hoffnung auf ein bisschen Extrageld durch Verkauf auf dem Markt.

Da ist Dona Idalina, die ihm ein Zimmer überlässt und das Gartenstück, sie hat vier Hühner besorgt. Sie feiern, mit Gitarrenmusik und Tanz, sie haben frische Eier. Da ist Senhor Prestes, der sich um die Gestrandeten, aus dem Gesundheitswesen Gefallenen kümmert.

Und dann – ja, dann ist da Jardel, Jardel da Silva. Der wie ein Wunder an seiner Seite auftaucht und sein treuester Gefährte wird. Eine symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Hund. Jeder träumt ein wenig den Traum des anderen. Durch ihn fühlt er sich lebendig. Jardel ist sein Lebensretter.

Und dann seine Tochter Aurora: nah und fern zugleich. „Wenn ich Dir schreibe, lebst Du, wenn ich schreibe, bin ich lebendig“. Er wäre gern mit ihr Seite an Seite gegangen.

Boa Morte sieht sich selbst als Mann ohne Gepäck, dessen Heimat der Chiado ist. „Niemand sieht uns, die Gestrandeten, niemand will uns sehen, aber wir sehen einander.“ Seine Briefe an die Tochter, von der er nicht einmal die Adresse weiß, sind ein Stück Lebensgeständnis über das Hier und Jetzt, über das Vergangene, sind durchtränkt mit Saudade, des lusitanischen Weltschmerzes, der Wehmut und auch der Sehnsucht.

Almut Scheller-Mahmoud

 

cover seebebenBibliografie:

Djaimilia Pereira de Almeida
Seebeben

Roman, Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita
Originaltitel: Maremoto
Erstauflage: 13.2.2023
Hardcover, ca. 160 Seiten
ISBN-13: 978-3-293-00595-2
€ 22.00, FR 30.00, € [A] 22.70
Unionsverlag