Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte

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Walsers jüngster Roman ist größtenteils von der Kritik gnadenlos zerrissen worden. Da muss die Frage erlaubt sein, warum?
Hier wird in einem schmalen, etwas mehr als 100-seitigem Buch ein vielfältiges, sprachlich virtuoses Szenenpanorama entworfen, wie man es nicht alle Tage in den Bücherregalen findet. Die Bezeichnung „Roman“ mag in der Tat übertrieben sein, dazu kommen die erzählerischen Aspekte leider zu kurz, was aber der Qualität keinen Abbruch tut.

Zum Inhalt:

Worum geht es? Der Protagonist, der sich inzwischen Justus Mall nennt, wurde als Jurist und Oberregierungsrat aufgrund eines für die Gesellschaft nicht akzeptablen Verhaltens frühzeitig in den Ruhestand  versetzt  Seitdem betätigt er sich als Philosoph , hat 2 Bücher und mehrere Aufsätze geschrieben und einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Er ist verheiratet, hat eine Tochter und eine Geliebte. Letztere trennt sich von ihm, da sie die Situation, ihn mit seiner Ehefrau zu teilen, nicht akzeptieren will. Er kann und will von keiner von beiden lassen. Die Ehefrau verkörpert die Vertrautheit, Freundschaft, gewachsene Liebe, die andere das Neue, frische, erotische, spannende. Er ist sich seines Dilemmas bewusst und er ist nicht stolz darauf, kann aber nicht aus seiner Haut herausschlüpfen. In seiner Verzweiflung schreibt er im Internet an eine „unbekannte Geliebte“, der er seine Situation schildert, hoffend, dass sie ihn verstehen und akzeptieren kann, so wie er ist, mit seinen Schwächen. Er tankt Kraft aus ihr, sie wird zu seiner neuen geliebten, verständnisvollen Seelenverwandten. Aber er weiß und das ist rührend: sie ist eine Utopie, eine Illusion, eine Wunschvorstellung, es gibt sie schlichtweg nicht. Daher auch die Einbahnstraßenkommunikation, nur von ihm zu ihr, ohne Antwort, die man Walser vorwirft, die aber im Kontext der Geschichte nur konsequent und folgerichtig ist. Eine etwaige Antwort würde den ganzen Sinn des Romans verfälschen. Justus Mall ist ein zerrissener Mensch, der in der Welt nicht mehr zurechtkommt, der Mails an eine illusionäre Person schickt, da er sie im wahren Leben nicht finden kann. Er ist durchaus eitel, hält was auf sich, will mit den Mächtigen nichts zu tun haben, will sie auch nicht bekriegen, sondern einfach in Ruhe gelassen werden. Er igelt sich nicht ein, er verkehrt durchaus mit anderen Personen, aber all das befriedigt ihn nicht, er zieht sich innerlich in ein Schneckenhaus zurück. Auf der einen Seite will er das so, auf der anderen leidet er darunter und dieses Leiden erstreckt sich bis zu angedeuteten Suizidgedanken. Als Auftragsarbeit, aus Geldmangel und im Namen eines anderen schreibt er ein Buch über das „Überflüssige“ , über das, was niemand braucht, keine Notwendigkeit darstellt, ohne Ziel oder Zweck ist und findet, anfangs skeptisch, Gefallen daran. Das „Überflüssige“ stellt die Erlösung das „Tor zur Freiheit“ in einer geschwätzigen, egozentrischen, selbstgefälligen, scheinbar sinnvollen Welt dar, einen Gegenentwurf zur heutigen Gesellschaft, in der doch schon alles getan und gesagt worden ist, die sich schon längst verloren hat und der eine Rückbesinnung zum nicht Wichtigen gut täte. Könnte das eben Nicht-Wichtige vielleicht das künftig Wichtige sein oder zumindest Grundlage einer wünschenswerten und zu erhoffenden künftigen Karthagos?

Was zwischen den Zeilen zu lesen „sein mag“

Soweit die Handlung, aber wie oft bei Walser, erscheint nicht die vordergründige, greifbare Handlung als das Kernstück der Geschichte, sondern das, was zwischen den Zeilen zu lesen sein mag. „Sein mag“ deshalb, weil es dem Leser nicht aufgelöst wird, es werden ihm eben gerade nicht, erfreulich, die potenziellen Lösungen mundgerecht und schmackhaft aufbereitet und serviert, sondern ein Innehalten, ein selbständiges Nachdenken, ein Sich Selbst Bedienen am Büffet wird ihm abverlangt, nicht das sich zurücklehnen und den Kellner das 7-Gänge Menü servieren lassen. Und eben das mag vielleicht den einen oder anderen Leser oder Kritiker überfordern, zumindest jene Kritiker, die nach Sinn, Aussagegehalt, Zweck suchen, anstatt, angeregt durch die Lektüre, selbst tätig zu werden und ihre grauen Zellen ticken zu lassen. Dieses Buch lässt sich nicht einfach „so runterlesen“, denn macht man das, so muss man es wohl negativ beurteilen.

Stilistischer Genuss

Stilistisch, wie bei Walser nicht anders zu erwarten, ein wahrer Genuss: wir finden kurze, teilweise naive Sätze, die uns schmunzeln lassen, wir stoßen auf Aphorismen, wie wir sie aus den „Meßmer“-Büchern kennen und auch , literarischer Genuss, etwas längere Sequenzen, wie wir sie aus seinen umfangreicheren Büchern lieben. Letztere hätten gerne mehr Raum einnehmen können, denn mit diesen gerät man in einen Wohlfühlzustand, der einfach nur mit dem Wort „schön“ zu bezeichnen ist.
Kurzum, ein schönes und lesenswertes Alterswerk, sehr zu empfehlen, so man bereit ist, auch selbst etwas durch Nachdenken zum Genuss beizutragen.

(Dirk Henschel)

Bibliographie

Martin Walser
Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte
112 Seiten
ISBN: 978-3-498-07400-5
Hardcover, 18 Euro

Der Autor:

Martin Walser, 1927 in Wasserburg geboren, lebt in Überlingen am Bodensee. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» ernannt.