Im Kampf mit der Naturgewalt

Flutnovelle2Man spricht übers Wetter. Zwischen Witwer Alfons Anzinger und dessen Tochter Steffi plätschert das Gespräch am Frühstückstisch dahin. Alltagsgraue Arglosigkeit eines Frühsommermorgens, die noch nichts vom Schrecken des Abends weiß.
Nach den humorgewürzten Vorgängerromanen „Saisonabsch(l)uss“ und „Haderlump“ rückt der niederbayerische Schriftsteller Andreas A. Reichelt in der Flutnovelle ab von der reinen Fiktion. Ausgangspunkt sind die realen Geschehnisse rund um das verheerende Hochwasser, dem im Landkreis Rottal-Inn am 1. Juni 2016 sieben Menschen zum Opfer fielen. Stundenlange Regenfälle hatten den knöcheltiefen Altbach in eine fast hundert Meter breite, schlammig-braune Flutwelle verwandelt. Verstörend-grotesk, die Bilder vom abtreibenden LKW, von Autos, Bäumen und Möbelstücken, die wie Korken auf der reißenden Strömung tanzten. Ganze Straßenzüge – verwüstet. Oft blieb kaum Zeit, sich rechtzeitig in Obergeschosse oder auf Dächer zu retten.

Es sind Kleinigkeiten, die zu Beginn das unvermittelt hereinbrechende Drama vorbereiten. Da rinnt ein einzelner Tropfen Milch von den Cornflakes über das Kinn, wenig später rauscht Dauerregen säuselnd durch die Dachrinne. Dann, der jähe Wendepunkt. Alfons, soeben am Arbeitsplatz angekommen, nimmt nur bruchstückhaft die schockierenden Schlüsselwörter des Nachrichtensprechers wahr: Stromausfall, Hochwasser, Helikopter. Worte, die ihn gewaltsam aus dem Werktagsmodus zerren.
Sofort steht die Frage nach dem Verbleib Steffis in erdrückender Monstrosität im Raum. Der Zusammenbruch des Handynetzes wird zum Impulsgeber einer spontanen Rettungsaktion. Die Ungewissheit steigert sich zur Angst. Von welcher Bedeutung ist da noch die Arbeitsstelle?

Gemeinsam mit dem Protagonisten wird der Leser mit der Ausnahmesituation konfrontiert. Das Erzähltempo zieht an, wird am Unglücksort von der Fließgeschwindigkeit der Wassermassen erfasst und mitgerissen. Bestürzende Szenerien erscheinen in dichter Folge. Da bleibt nur wenig Zeit für einen gesellschaftskritischen Seitenhieb auf die allerorts grassierende Gaffermentalität. Die Suche gerät zur verzweifelten Odyssee. Geschickt versteht es Reichelt, Alfons mehr und mehr als Getriebenen seiner Panik zu schildern, was unausweichlich tragisch zu enden droht.
Die Flut stellt radikal die Lebensmaximen ihrer Opfer auf den Prüfstand. Wer sich bis dahin vornehmlich mit Aufbau und Erweiterung des Eigenheims und dem Erwerb anderer Güter beschäftigt hat, ist doppelt getroffen. Mit dem Verlust der materiellen Existenz geht die Erschütterung der Lebensmitte einher. Damit ist im Finale das eigentliche Thema der Erzählung freigespült: die Vaterliebe als geistiger Wert, als katastrophenresistenter Gegenentwurf zur hedonistischen Grundhaltung.
Der Griff zur Feder im Nachgang der Ereignisse war Reichelt ein notwendiger und selbsttherapeutischer Akt, um sich von den Bildern lösen zu können. Herausgekommen ist ein sehr persönliches Buch. Ausgehend vom tagesaktuellen Geschehen erzählt die Flutnovelle eine berührende Geschichte in schlichter, zum Belletristischen neigender Schreibweise und wirft zugleich profunde Fragen auf.

Matthias Schneider-Dominco

Bibliographie:

A. A. Reichelt
Die Flutnovelle – Niederbayern 2016
Twentysix
Paperback, 76 Seiten
ISBN 978-3-740714932
7,99 €