Der mit den Bäumen spricht

Usama Al Shahmani: In der Fremde sprechen die Bäume arabisch

Bäume sind Gedichte, die die Erde in den Himmel schreibt (Khalil Gibran)

Ursama Al Shamani stammt aus dem Irak, ist studierter Literaturwissenschaftler und lebt seit 2002 in der Schweiz. Fliehen oder sterben – einen anderen Weg gab es nicht. Weder für ihn noch für Tausende andere Iraker, wenn man erst einmal im Visier der Geheimpolizei war.  Die Schweiz ist die Endstation seiner Flucht und nach vielen befremdlichen Jahren auch seine zweite Heimat. Doch dem Irak ist er durch die Nabelschnur der arabischen Sprache verbunden.

In seinem hier vorliegenden, in deutscher Sprache geschriebenen Buch, zeigt er seinen Weg in die neue Heimat auf. Die Heimat als Ort, aber vor allem als Heimat der Sprache. Und als Gefühl einer inneren und einer äußeren Heimat.  Die Entdeckung des europäischen Waldes bringt ihm neue Erfahrungshorizonte und er schließt ganz persönliche Beziehungen zu einzelnen Bäumen.
Deshalb ist dieser zwar nicht autobiographische, aber doch mit der eigenen Biographie zutiefst verflochtene und verwobene Roman in sieben Kapitel, den Bäumen gewidmet, unterteilt. Baum der Liebe. Baum der Hoffnung. Baum der Ungewissheit. Baum des Todes. Baum der Heimat. Baum des Traums. Baum der Geduld.

Es sind Widerspiegelungen menschlicher Erfahrungswelten. Und die spiegeln sich in Kindheits-erinnerungen: die analphabetische Großmutter: die erste Quelle an Märchen, Liedern, Witzen, Sprichwörtern, Weisheiten, Momente seines Studentenlebens: die Straße Al Mutanabbi, wo die Menschen ihre Bücher verkauften und man sich bei Shakespeare, Tolstoi, Dostojevski bedankte, da man nun Geld für Lebensmittel und Medikamente hatte. Die Jahre der Golfkriege: der Vater kehrte lebend, aber verhärtet heim, brennende kuwaitische Ölquellen, die die Flüsse schwarz färbten, die Dattelpalmen sahen aus wie in Hijabs gehüllte Frauen. Die Brutalität aller drei Kriege. Massengräber, eine religiös gespaltene Gesellschaft. Als Saddams Statue stürzte: Jubel, aber es fiel nur der Oberkörper, die Beine standen statuenfest auf ihrem Sockel und auch Jahre später war die Gesellschaft immer noch „saddamisiert“.

Das neue Leben in einem neuen Land, das ihm ein Refugium bietet. Langsam fühlt er sich angekommen, auch wenn die ferne Heimat weiterhin in ihm lebt. Aber alles wird davon über-schattet, dass sein geliebter Bruder Ali vermisst wird. Intensive Suche mit allen erdenklichen Mitteln – vergeblich. Das letzte Foto seines Bruders: von einem himmelblauen Schal umschlun-gen. Spät, sehr spät erkennt die Mutter den Tod des Sohnes an, so dass Luma, ihre Tochter, den noch ungeborenen Sohn Ali nennen konnte. So schließt sich ein Kreis.

Durch die Begegnung mit der Tante eines Freundes, die seit 40 Jahren in der Schweiz lebt, hört er vom Wandern. Etwas völlig Abwegiges für einen Iraker. Im Irak geht, läuft, spaziert, bummelt, schlendert man. Aber für Wandern gibt es nicht mal ein Wort. Und einen Wald gibt es auch nicht. Es gibt menschenhändig gepflanzte Bäume – die der Datteln, der Oliven, Zitronen und Granat-äpfel. Aber „freie“ Bäume? Es gibt die Fichte, den Baum der Rückkehr. Viele Mütter binden die Nabelschnur der neugeborenen Söhne an einen Ast, und kleine Vögel kehren immer dorthin zurück, wo sie das Fliegen erlernten.

Die Enge des Asylantenheims bringt den Protagonisten zum Wandern. Er sieht einen Baum mit gebrochenem Stamm „Schau, sein Stamm ist gebrochen, aber er steht stolz da“. Stehen bleiben, sich neu verästeln – war das nicht auch die Herausforderung für sein neues Leben? Immer wieder taucht er ab in den Wald: sein persönlicher Tauchgang. Heute sprechen wir vom Trend des Waldbadens. Im Wald kann er neuen Anfang denken, die Vergangenheit zurücklassen. Er erfährt, dass Bäume ein Gedächtnis haben, dass sie sich gegenseitig helfen, die Verbundenheit der Wurzeln. Gibt es ein geheimes Leben der Bäume?
Nun ist ein alter Baum ein Stück Leben. Er beruhigt, er erinnert. Er setzt das sinnlos heraus-geschraubte Tempo herab, mit dem man unter großem Geklapper am Ort bleibt. (Kurt Tucholsky)

Im Wald ist die arabische Sprache seine ständige Begleiterin: er streut Buchstaben, Worte über die Äste und Blätter. Was für ein schönes Bild. In das Laub geschriebene Poesie!! Aber auch Worte des Krieges, der Gewalt, der Lüge. Das Janus-Gesicht einer Sprache.

Es ist ein erschütterndes Buch, das die Fremdheit feingliedrig aufzeichnet, aber auch die Stärke und Resilienz eines Mannes, der sich zu seinem neuen Leben, seinem neuen Land bekennt, ohne die Wurzeln der Heimat zu kappen. Es zeigt zudem den Morast und das Dickicht des Krieges, der schmutzigen politischen Machtspiele. Und wir Lesende hier im friedlichen Europa können dankbar sein. Noch sind wir verschont. Was würde aus jedem Einzelnen von uns? Wie würden wir mit Krieg, Flucht und einem Leben in Ungewissheit umgehen?

Kernpunkt des Romans ist das Leben in Ungewissheit. Das Ungewisse des eigenen Schicksals und das Nichtwissen über Alis Schicksal. Wie ein Weberschiffchen dringt der Autor in das soziale Gewebe der irakischen und der Schweizerischen Gesellschaft mit dem Schlussfaden der Hoffnung. Des Angekommenseins. Und vielleicht verbindet ihn ein imaginierter seidener Faden mit der kleinen alten, gekrümmten Frau unter dem Maulbeerbaum, damals vor 20 Jahren, am Busbahnhof von Nassirija, die Steine für die Zukunft legte. „Du hast einen langen Weg vor Dir, der nicht gefahrlos ist, Dir dann aber Sicherheit bietet. Schau nicht zurück. Dein Traum wird Früchte tragen, aber die Früchte fallen nicht hier. Du bist fremd, egal wo.“ Ob der Baum wohl noch steht?

Wir gelangen stets an den Ort, an dem man uns erwartet.
Kitab al Maslik wa-l Mamalik (Das Buch der Reiserouten und der Reiche)

(Almut Scheller-Mahmoud)

baumBibliographie:

Usama Al Shahmani
In der Fremde sprechen die Bäume arabisch
Taschenbuch, 192 Seiten
13.00 Euro
ISBN 978-3-293-20924-4