Die wundersame Geschichte vom „Fliegenden Kurden“

Bachtyar Ali: Mein Onkel, den der Wind mitnahm

Bachtyar Ali ist ein kurdisch-irakischer Schriftsteller, der seine Romane auf Sorani, einer kurdischen Sprache, schreibt. Seine traumhafte poetische Sprachumsetzung macht die Lektüre seiner Bücher zu einem sprachlichen Hochgenuss. Sie sind Solitäre in der Buchlandschaft. Seine Sprache ist leise, sich nicht in den Vordergrund drängelnd, nicht marktschreierisch. Er fabuliert im Stil orientalischer Märchenerzähler in scheherazadischen Bildern.
Der vorliegende Roman ist in Ich-Form geschrieben, von Salar, dessen Onkel Djamschid die tragende Person neben dem Element des Windes ist. Und wir als Lesende fliegen mit als „blinde Passagiere“ wie auf einem Fliegenden Teppich.

Djamschid war vor seiner Verhaftung wegen kommunistischer Umtriebe mit seinen 17 Jahren fast eine barocke Gestalt. Während der Haft, in der er allen Folterfinessen widerstanden hatte, war er zu einem Strich in der Landschaft, zu dem pergamentenen Schatten eines Menschen geworden. Als er wieder einmal zu einem Verhör abgeholt worden war, wurde er bei der Durchquerung des Gefängnishofes von einem starken Wind erfasst und sein federleichter Körper entschwebte in himmlische Sphären. Erst nach Stunden landete er auf dem Dach des großväterlichen Hauses mit einem ausgelöschten Gedächtnis.

Und damit begann eine unfreiwillige Odyssee durch die Lüfte und ein biographisches Abenteuer. Er schwebte durch die himmlischen Gefilde über die Landesgrenzen hinweg: er war eine menschliche Drohne im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran, ein „Schlachtenbummler“ mit einem Spezialanzug, der sich wie ein Chamäleon den Farben des Himmels anpasste. Er beweinte sein eigenes Schicksal und das der Frauen: durch ihn verloren Mütter ihre Söhne oder wurden zu Witwen. In Gefangenschaft wurde er von den Iranern als verkleideter Imam mit dem Kampfruf „Die Seele des Imam Hussein ist mit Euch“ missbraucht. Bei seiner Rückkehr hatte er Angst vor den Winden und der Weite des Himmels und verkroch sich mit seinen Neffen Salar und Smail in den Höhlen eines verlassenen Dorfes.

Mit Safinaz, der er vom Himmel aus seine Liebe gestand, begegnete er der Liebe und es begann für ihn ein neues, ein sesshaftes Lebenskapitel. Doch Frauen sind unberechenbar und mitunter auch berechnend. Safinaz ließ zu, dass Djamschid von einem Sturm davon gewirbelt wurde, denn sie hatte schon seit Jahren einen heimlichen Liebhaber. Der Schicksalswind trieb ihn zu den Peschmerga, die ihn gegen die türkische Armee einsetzten. Er stürzte ab, verlor abermals sein Gedächtnis und seine Persönlichkeit und sah sich selbst als göttliches Wunder. Das nutzte der Imam der Zwei-Kuppel-Moschee geschickt zu seinen Gunsten und setzte Djamschid jeden Freitag hoch oben im Luftraum der Moschee als Prediger ein. Eines Tages fiel er, angeschossen von den gegnerischen Imamen, auf die Erde und nach tagelangem Koma hatte er Gott völlig vergessen.

Djamschid wurde vom Gottesprediger zum reichen und gut beleumdeten Flüchtlingshelfer im türkisch-griechischen Grenzgebiet. Aber widrige Umstände wehten ihn über das Meer und diesmal tauchte er erst nach zehn langen Jahren wieder auf. Er hatte eine lange Reise mit Stippvisiten auf Malta, Kreta und Zypern hinter sich, ohne Identität, Pass und ohne Geld. In einem Sarg, gut vor den tückischen Winden geschützt, kehrte er als „lebender Tote“ heim. Die Landung auf einer der Latifundien eines einflussreichen Politikers machte ihn zum sklavischen Eigentum und zu einer Zirkusattraktion und Gästebelustigung: die Flugshow war der Höhepunkt der ausgelassenen Abende. Sein Neffe konnte ihn befreien und ließ Djamschids Lebensgeschichte, um dem ewigen Gedächtnisverlust ein Schnippchen zu schlagen, auf seine pergamentene Haut tätowieren. Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz, so dass er aussah wie eine mesopotamische Schrifttafel. Djamschid sehnte sich an einen Ort ohne Wiederkehr und ohne verwehende Winde. Nach Jahren erhielt Salar ein blaues Kuvert mit einem Dankesbrief für die langjährigen Dienste, die er ihm als Seilhalter treu gedient hatte und mit Fotos, die einen rundlichen Mann im Bambushain zeigten.

Salar begann Djamschids Geschichte aufzuschreiben. Eine Geschichte in der es darum geht sich treiben zu lassen und getrieben zu werden und von der alten Mär „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Eine Geschichte mit einem runden Ende.

Was Bachtyar Ali hier erzählt, ist ein Potpourri an Einfällen, ist fast eine monomythische Heldenreise und hat auch etwas vom „Ritter von der traurigen Gestalt“, auch wenn Djamschid nicht gegen Windmühlenflügel kämpft, so doch gegen ein vom Winde verwehtes Schicksal. Und natürlich erinnert es nicht mehr ganz junge Deutsche an die „Geschichte vom Fliegenden Robert“ aus dem Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann.

Für mich ist das fliegende und wehende Narrativ des Djamschid wie ein magisches Collier, wie ein kurioser Reigen, die die eigene Phantasie anregen und träumen lassen. Was wäre, wenn…. Und ist das nicht eine der Aufgaben der Literatur? Zum Vordenken, zum Nachdenken, zum Querdenken anzuregen?

Das ist Bachtyar Ali auf meisterliche Weise gelungen und ihm gebührt mein innigster Dank.

windeBibliografie

Bachtyar Ali
Mein Onkel, den der Wind mitnahm
Roman, aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim
Hardcover, 160 Seiten, Unionsverlag
ISBN: 978-3-293-00571-6
€ 20.00