Es gibt kein richtiges Leben im falschen. (Adorno)

Alena Mornštajnová: Hana

Alena Mornštajnová ist eine tschechische Schriftstellerin, der vorliegende Roman wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
Das Leben von vier Frauen bildet das Gerüst dieses Romans, ein Gerüst, das von ihren Schicksalen in einer schicksalhaften Zeit umrankt wird. Der erste Teil behandelt die Jahre zwischen 1954 und 1963 und handelt in Ich-Form von der jungen Mira. Der dritte Teil, ebenfalls als Ich-Erzählung, handelt von Hana und ihrem Leben zwischen 1942 und 1963. Der Mittelteil „Die vor mir“ ist den Jahren 1933-1945 gewidmet und zum größten Teil in neutraler Erzählform geschrieben.
Die vier weiblichen Hauptpersonen sind Elsa, deren Töchter Rosa und Hana und Mira, Rosas Tochter. Weitere Figuren in diesem Roman-Ensemble sind Ivana und ihr Mann Jaroslav Horáček. Deren Kinder Ida und Gustav. Ludmila Karáskova und ihr Sohn Karel. Leo Gross und Jarka aus Theresienstadt sowie Anton Urbánek.
Diese Figuren werden zu einem komplexen Geflecht aus Schicksalsfäden, die in die Zeit vor Hitlers Einmarsch in die Tschecheslowakei bis in die frühen Nachkriegsjahre reichen.

Der Roman beginnt mit Rosas 30. Geburtstag im Jahr 1954 mit einer Schachtel der besten Konditorei der Stadt mit Spritzkringeln, mit Eiercreme und Zuckerguss verziert. Diese Spritzkringel waren Todeskringel, typhusverseucht durch das schlechte städtische Brunnenwasser. Die Familie starb, nur Hana und Mira überlebten. Mira war plötzlich allein in eine veränderte Welt geworfen. Sie fand Aufnahme bei Ivana, der ehemals besten Freundin ihrer Tante Hana und deren Mann Jaroslav. Der brachte sie eines Tages zu ihrer Tante. Mira wusste nichts von Hanas Leben. Warum diese ihr so fremde Tante so eigenbrötlerisch war. So anders. Die nur in einem fest strukturierten Tag überleben konnte; immer zur gleichen Zeit aufstehen und zu Bett gehen, immer am gleichen Tag einkaufen und immer in den gleichen Läden. Ein erstarrtes Leben. Sie hatte Angst vor Berührungen, sprach kaum, immer ein Stück trockenes Brot in einer Rocktasche. Die zwei Frauen kamen sich langsam näher und Mira löste das Puzzle von Hanas Persönlichkeit.

Die Familiengeschichte beschreibt den Abtransport von Elsa, deren Eltern und Hana nach Theresienstadt. Rosa fand Unterschlupf bei Elsas Freundin Ludmila. Obwohl Abreisepapiere und Visa zu Elsas Bruder nach England vorlagen, verzögerte sich die Ausreise, da Hana bleiben wollte und die Papiere für Rosa zurückhielt. Sie wusste, dass ihre Mutter ohne Rosa nicht reisen würde. Hana wollte bleiben, um Jaroslav Horáček zu heiraten. Für ihn als Soldat war Hana eine gute Partie, denn die durften nur Frauen mit einer guten Mitgift heiraten. Obwohl er eigentlich Hanas Freundin Ivana vorgezogen hätte, die aber aus einer armen Familie stammte. Als sein Hauptmann ihm mitteilte, dass eine Ehe mit einer Jüdin verboten sei, zog er sich von Hana zurück, die immer noch bienenfleißig an ihrer Aussteuer nähte, stickte, strickte, vertröstete sie fadenscheinig, ohne ihr die Wahrheit zu gestehen.
Sie entging ihrem Schicksal nicht, nur Rosa blieb zurück und kümmerte sich rührend um Ludmila, deren Sohn Karel sich bald ein Leben ohne Rosa nicht mehr vorstellen konnte. Ansonsten lebte er für seine Uhren, er tickte und pendelte mit ihnen durch das Leben.
Während der Typhus-Infektion Jahre später herrschte Stille im Laden, kein Ticken, die Pendel erschlafft. Vielleicht 100 stehengebliebene Uhren. „Niemand da, der sie braucht. Es war, als seinen sie gestorben“.

Das Ghetto war überfüllt. Elsas Eltern bekamen den Befehl des Abtransports, Elsa wollte ihre Eltern nicht allein lassen und begleitete sie. Hana sollte so lange wie möglich in Theresienstadt bleiben. „Wenn alles vorbei ist, treffen wir uns zuhause“.
Das klingt fast nach dem tschechischen Schelm Schwejk „Nach dem Krieg um halb sechs im „Kelch“.

Im Ghetto war Hana allein, unter tausenden von Menschen, nur Jarka war ihr nah. Angst wurde ihre ständige Begleiterin, Angst vor Transport, Strafen, Hunger, Krankheit, Einsamkeit. Hana ging eine Beziehung mit Leo Gross ein, einem Koch. Der Preis war die Hingabe ihres Körpers, doch entwickelte sich aus der ‚„Kosten-Nutzen“-Rechnung eine menschliche Verbindung. Er erzählte von Prag, sie träumten von einem gemeinsamen Leben dort, das gab ihnen Kraft zum Überleben. Hana wurde schwanger, „ob sie überhaupt wisse, wer der Vater sei. Ja, Leo Gross aus der Küche“. Den Winzlingssohn bekam sie nicht zu Gesicht und auch Leo sah sie nicht wieder. Er wurde abtransportiert.

Hana verglich ihre Seele mit einem Zuckerhut, bei jedem Schicksalsschlag sprang ein Stückchen ab, er wurde kleiner und kleiner und bei Leos Abtransport zersprang die Hälfte in 1000 Stückchen.

Sie kam nach Auschwitz. Alter? 25. Gesund? Ja. Nach links. Wäre Hana nach rechts eingereiht worden, wäre sie als Ascheflocken auf die Erde gerieselt. Mit einem scharfspitzigen Stift wurde eine Nummer tintig tätowiert. Sie träumte von der Freiheit des elektrisch geladenen Zaunes.

Hana überlebte und kehrte 1945 in die Heimatstadt zurück. Die hatte sich nicht verändert, aber sie war eine andere, passte nicht mehr in das Bild. Das Elternhaus stand noch, die von ihr gehäkelten Gardinen hingen vor den Fenstern. Und im Laden war Herr Urbánek, dem die Mutter damals den Laden pro forma verkauft hatte. Er weinte aus Mitleid und Entsetzen vor dem, was er sah: Weiße Haare mit kahlen Stellen, stark geschwollene Fingergelenke, einen zahnlosen Mund, eingefallene Wangen. Augen, die sich versteckten, weil sie zu viel gesehen hatten.

Rosa bemühte sich, die Seele ihrer Schwester mit den Fäden der Liebe zu umgarnen. In der Stadt sagten die Leute „Sie waren im Lager in Sicherheit vor den alliierten Bomben. Sie müssen aufhören, sich zu bemitleiden“. Aber Hana sah sich von einer Welle aus Schuld verschlungen, sie ertrank in einen zwanzigjährigen Tränenmeer.
Zwei verschiedene Wahrnehmungs- und Opferebenen. Wie immer und überall in jedem bellizistischen Konflikt.

Mira heirate Gustav, den Sohn von Ivana und Jaroslav Horáček. Deren kleiner Sohn Ortík wurde zu einem Bindeglied zu Hanas sich erinnernde Hände und Finger, die für ihn strickten und sie ins Leben zurück strickten.

Die Autorin beschreibt gekonnt, fast sachlich, ohne Gefühlsduselei die familiäre und gesellschaftliche Zerrissenheit jener Zeit.
Die Figur Hana ist als starke Frau gezeichnet, eindringlich nahe, ihr Schicksal so bedrückend, dass es zugleich Distanz evoziert. Man kann fast nicht mitleiden und mitempfinden, sondern nur den fatalistischen Überlebenswillen bestaunen und bewundern und sich zum Schluss darüber leise freuen, dass diese Frau aus dem Schatten ihrer Traumata herausfindet und sich dem Leben wieder zuwendet. Aus der Überlebenden wird wieder eine Lebende.
Überlebt zu haben ist ein Privileg und eine Verantwortung (Wiesenthal) – sich selbst und den Mitmenschen gegenüber.
Vielleicht kauft sich Hana einen Zuckerhut, um die Heilung ihrer Seele zu symbolisieren?
Die von Alena Mornštajnová erschaffene Hana symbolisiert Mahnung und Hoffnung. Dafür gebührt ihr Dank.

(Almut Scheller-Mahmoud)

hanaBibliografie:

Alena Mornštajnová
Hana
Roman, aus dem Tschechischen von Raija Hauck
352 Seiten, ISBN: 978-3-293-20923-7
14.00 Euro
Unionsverlag