Ein Blick in die Glaskugel?

Germany 2064_CoverDie Zukunft fasziniert und ängstigt zugleich. Gerade in diesen Zeiten, die von Terror auf der einen Seite, einem stetigen Flüchtlingsstrom auf der anderen Seite geprägt sind, sehnen sich die Menschen nach einer Zukunftsvorhersage, die ihre Ängste zerstreut. Bücher wie Houellebecqs „Unterwerfung“, die mit akuten Emotionen spielen, sind, ohne Ansehung ihrer literarischen Qualität, nicht dazu geeignet, dem Leser irgendeinen Halt zu geben. Das muss Literatur auch nicht. Dennoch verfolgt Martin Walker mit „Germany 2064“ einen völlig anderen Ansatz. Statt Emotionen nutzt er wissenschaftliche Prognosen als Ausgangsbasis.

Der Thinktank der Management-Beratung A.T. Kearney, dessen Mitglied Walker ist, liefert diese Prognosen. Walker knüpft sie zu einem ganzheitlichen Bild der Welt zusammen, das ihm als Schauplatz eines Kriminalfalls dient.

Deutschland ist im Jahr 2064 in hochtechnisierte Großstädte und freie Gebiete unterteilt. In letzteren suchen Aussteiger ein naturverbundenes Leben. Aber auch Schmuggler und Drogenköche nutzen die Freiheit fernab von Überwachungskameras und Identitäts-Chips für ihre Machenschaften. Auf der Schnittlinie zwischen diesen beiden Welten verschwindet plötzlich eine bekannte Sängerin.

Der Polizist Bernd Aguilar und sein Kollege, ein Roboter, der nach dem letzten Upgrade erstaunlich menschlich wirkt, ermitteln und kommen dabei mit ranghohen Persönlichkeiten der Wirtschaft in Kontakt …

Martin Walker referiert die Ergebnisse seines Thinktanks über zahlreiche Seiten als auktorialer Erzähler, insbesondere die geschichtlichen Entwicklungen von 2015 bis 2064 erzeugen dabei arge Längen. Natürlich lässt er auch seine Figuren sprechen. Doch selbst diese dozieren in einer monotonen Sachlichkeit und Ausführlichkeit, die dem Gesprächsanlass selten angemessen scheint. Die Zukunftsentwürfe sind dabei größtenteils nachvollziehbar bis naheliegend. Der Flüchtlingsstrom, der bereits besteht, hält an. Der aktuelle Wunsch nach natürlicher Lebensweise und Ernährung nimmt zu, ebenso die Tendenz zur staatlichen Überwachung. Außerdem schreitet die Forschung an Robotern weiter voran, es gibt selbstfahrende Lkw und Kommunikationsmittel nutzen in Zukunft die Technik der Holographie.

Was Walker kaum gelingt, ist diese durchaus interessante Informationsflut mit einer spannenden Geschichte zu verbinden. Der Kriminalfall erscheint eher als Illustration, denn als Zweck des Romans.

Dabei hat die Geschichte gute Ansätze. Das spurlose Verschwinden einer Person in Zeiten der Totalüberwachung ist ein faszinierendes Rätsel. Die Interaktion zwischen Mensch und Roboter gibt den Recherchen eine zusätzliche Dimension. Die verschiedenen Gruppierungen, Freiländer, Wirtschaftsmagnaten, Politiker und organisierte Verbrecher böten die Möglichkeit zu komplexen Handlungssträngen und sehr abwechslungsreichen Erzählperspektiven.

Leider bleibt die Charakterisierung der handelnden Figuren meist klischeebehaftet und oberflächlich. Dass auf den Handlungsort Deutschland plakativ mit Namen wie Hans und Dieter, Verweisen auf Richard Wagner und deutschen Schlager hingewiesen wird, passt da gut ins Gesamtbild.

Wer sich für die aktuellen Ergebnisse eines Thinktanks zur gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung in den nächsten 50 Jahren interessiert, der findet sie hier in äußerst zugänglich aufbereiteter Form. Ein guter (Zukunfts-)Roman erwartet den Leser mit „Germany 2064“ aber nicht.

(Tobias Schudok)

Über den Autor

Foto: Klaus Einwanger / © Diogenes Verlag

Foto: Klaus Einwanger / © Diogenes Verlag

Martin Walker, geboren 1947 in Schottland, ist Schriftsteller, Historiker und politischer Journalist. Er lebt in Washington und im Périgord und war 25 Jahre lang Journalist bei der britischen Tageszeitung ›The Guardian‹. Er ist im Vorstand eines Think Tanks für Topmanager in Washington, den er sieben Jahre präsidierte, und ist außerdem Senior Scholar am Woodrow Wilson Center in Washington DC. Seine ›Bruno‹-Romane erscheinen in fünfzehn Sprachen.

Bibliographie

Martin Walker
Germany 2064 – Ein Zukunftsthriller
Diogenes
Hardcover m. Schutzumschlag, 432 Seiten
ISBN 978-3-257-06939-6