Ein Klassiker über das Leben

7759_NA_Kannichauch:Layout 1Jeder ist sein eigener Mikrokosmos – mit seinen ganz individuellen Hoffnungen, Sorgen, Nöten und Wünschen. Werden aber Menschen wie im ersten Weltkrieg dahingeschlachtet, verstümmelt oder in den Wahnsinn getrieben, verliert sich der Blick auf das Individuum. Der Einzelne ist degradiert zum gesichtslosen Soldaten, zu wertlosem Kanonenfutter, zur beliebigen Massenware.
Tom Birkin hat die Hölle überlebt, als er im Sommer 1920 im ländlichen Idyll Oxgodby ankommt. Nur ein starkes Zucken im Gesicht entlarvt die tiefen inneren Wunden, die der Restaurator im Schützengraben und in seiner gescheiterten Ehe erlitten hat. Hier, in der Nähe von York will er wieder Frieden finden, um zu sich zu kommen. Und während er sich vorsichtig seinen Gefühlen stellt, legt er in der Dorfkirche Stück für Stück ein mittelalterliches Fresko frei.

Begeisterte Leser von Joseph Loyd Carrs Werken kennen diese Geschichte sicher schon lange. Sein nun erstmals ins Deutsche übersetzter Roman „A Month in the Country“ erhielt bereits 1980 den Guardian First Book Award und wurde unter der Regie von Pat O’Connor und Colin Firth in der Hauptrolle 1987 verfilmt.
Warum es nun über 35 Jahre gedauert hat, bis dieser britische Klassiker in deutscher Sprache erschienen ist, bleibt wohl ein Geheimnis. Wichtig ist nur, dass dies nun endlich geschehen ist.
Der bereits 1994 verstorbene Carr gehört zu den wirklich Großen seines Genres. Mit „Ein Monat auf dem Land“ hat er eines seiner Meisterstücke verfasst. Er beherrscht sein Handwerk und seine Kunst wie kaum ein anderer und setzt diese spielend um.
„Eine nette, unterhaltsame Geschichte“ in einem ländlichen Idyll im Stil von Thomas Hardys „Die Liebe der Fancy Day“ sollte es sein, schreibt Carr in seinem Vorwort. Die beste Vorlage für den Ort des Geschehens findet er in seiner Heimat Yorkshire, wo er „in einem Haus ähnlich dem der Ellerbecks aufwuchs“. Und so enthält der Roman noch viele weitere autobiographische Bezüge. Erfahrungen des früheren Lehrers und Soldaten Carr sind genauso eingeflossen, wie sein eigener Vater als Vorlage für den Stationsvorsteher Mr. Ellerbeck.

Liebevoll und mit viel Gefühl baut Carr seine Geschichte auf. Es ist das Verdienst von Monika Köpfer, der es gelungen ist, die sprachliche Leichtigkeit Carrs meisterhaft ins Deutsche zu übertragen und so die Stimmung des Romans zu erhalten.
Seine Charaktere sind durchweg liebenswerte Menschen. Selbst der übelste Zeitgenosse gibt sich zum Ende der Geschichte als vom Leben und den Umständen gezeichnete Persönlichkeit mit freundlichen Zügen zu erkennen.
Im Mittelpunkt aber steht Tom Birkin. Der Tiefverletzte, der Traumatisierte. Geradezu plastisch arbeitet Carr die Zerrissenheit seines Hauptcharakters heraus. Der frühere Kunststudent und angehende Künstler, der sich dem Schönen und Kreativen verbunden fühlt, muss Kriegsdienst leisten. Entfremdet von seiner eigenen Persönlichkeit erlebt er die Brutalität und das Grauen des Krieges. Die Schlachtenhölle überlebt er tief gezeichnet als menschliches Wrack. Seine Frau betrügt und verlässt ihn. Statt zum Künstler reicht es nur zum Restaurator. Aber während er in der Stille der Kirche Stück für Stück das geniale Gemälde eines mittelalterlichen Meisters freilegt, das ausgerechnet das Jüngste Gericht in prächtigen Farben zeigt, beginnen seine Wunden zu heilen.
Carrs Geschichte erzählt aber auch von der Schönheit des Lebens und von Mitmenschlichkeit. Denn auch wenn Birkin in der kleinen Gemeinde zunächst ein Außenseiter ist, den die Dorfgemeinschaft neugierig und zugleich skeptisch beäugt, findet er genau hier schnell Verständnis, Unterstützung, Freundschaft und sogar Liebe.
So ist Carrs Roman ein feinsinniges, warmes Meisterwerk in bester britischer Manier.
(Gernot Körner)

Der Autor:

J. L. Carr wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994 an Leukämie. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag und verfasste acht Romane. ›Ein Monat auf dem Land‹ ist Carrs bekanntestes Werk und war 1980 für den Booker-Preis nominiert.

Bibliographie

J.L. Carr
EIN MONAT AUF DEM LAND
Übersetzung: Monika Köpfer
144 Seiten, Hardcover
Originalverlag: Harvester Press, Originaltitel: ›A Month in the Country‹
ISBN 978-3-8321-9835-0
18 Euro