Modus vivendi. Modus operandi. Wer ist Jäger, wer ist Gejagter?

Colin Niel: Unter Raubtieren

Dieser sehr spannende, packend geschriebene Roman wirft viele Fragen auf. Nach der Natur des Menschen, nach der Natur der Tiere und nach der Natur als Schöpfung und Habitat.
Colin Niel gelingt es meisterhaft, einen Spannungsbogen zwischen den drei Komponenten aufzubauen, mit einem unerwarteten Finale.

Martin, Apolline und Komuti sind die drei Menschen, die die Szene beherrschen. Cannellito und vor allem Charles sind ihre Kontrahenten.
Ganz wunderbar die Einleitung und die Einsprengel des rhythmischen, fast atemlosen Löwen- gesangs. Beeindruckend, wie der Autor diese Möglichkeiten an Empfindungen und Gedanken eines so großen stolzen Tieres verbalisiert, in Worte fasst. Wie wir Teil seiner Lebensspule werden, der Blüte seines Lebens als Alphamännchen, seiner erniedrigenden Entmachtung, seiner Ruhmesstunden und seiner Niederlagen.
Die männlichen Lebensrealitäten und die weibliche von Apolline werden durch die inneren und äußeren kulturellen Einflüsse lebendig. Martin, ein Ranger in den französischen Pyrenäen, der sich mit seiner Aufgabe des Naturschutzes identifiziert und auf der Suche nach den Spuren des letzten pyrenäischen Bären, Cannellito, ist. Komuti, ein junger HImba, der sich in der Liebe zu der schönen Kariungurua verliert und sich als Mann, als Löwentöter beweisen möchte. Apolline, eine junge mutterlose, vom Vater verwöhnte Amazone, die mit ihrem Jagdbogen nicht die fernöstliche meditative Kunst des Bogenschießens verinnerlicht, sondern ihn als Tötungsinstrument nutzt.

Alles beginnt mit dem Prolog von Charles am 30. März und endet mit seinem Epilog vom 10. Oktober.

Die einzelnen Kapitel sind den einzelnen Menschen zugeordnet, aber nicht in geordneter chronologischer Reihenfolge. Sie folgen einem dramatischen Ablauf, der von Südfrankreich bis nach Namibia zu Charles führt. Nach Namibia, wo die Himba teilweise schon verwestlicht sind: Jeans und Basecaps und Sneakers als Zeichen der Moderne. Nach Namibia, wo Dürre herrscht und einer der Himbas überzeugt ist: Schuld haben die Weißen, erst kolonisieren sie uns, dann verändern sie sogar das Wetter. Nach Namibia, wo die Jagd auf Charles freigegeben wurde – kein „canned hunting“ (gezüchtete Tiere im eingezäunten Bereich), sondern „free roaming“. Aber die Dramatik zeigt sich auch in einer detektivischen Suche in der Social Media-Gesellschaft unserer Zeit und endet mit einer Verfolgungsjagd in den Pyrenäen, wo der Jäger konstatiert, dass er mit der Gejagten viel gemeinsam hat, beide sind Einzelgänger in ihrer Gesellschaft. Aber einer tötet Tiere und der andere schützt sie.
Die Natur ist hier nicht nur Bühnenbild oder Kulisse, sondern durch eine sinnliche Beschreibung fast fühlbar und berührt die Lesenden emotional nah.
Hintergrund all dessen ist die Urgeschichte der Menschheit. Vom Sammler zum Jäger und zur Pervertierung der Jagd. In Frühzeiten Mittel des reinen Überlebens ist sie heute ein Statussymbol mit Trophäen und ein Luxusbusiness, damit schießwütige und tötungsgeile reiche Männer (und auch Frauen) ihrem Größenwahn, die Krönung der Schöpfung zu sein, frönen können. Da werden ganze Landstriche für Ressorts entvölkert (aktuell gerade in Tansania durch Vertreibung der Massai), damit die eingeflogenen Menschen ihren stammesgeschichtlichen Urinstinkten, verfeinert mit abendlichen Sundowners, nachgeben können.
Und lässt die Frage offen: wer ist Mensch? Wer ist Tier?
Ein Buch, das anregt, weiter zu recherchieren über die Natur der conditio Humana und der conditio animalis. Colin Niel ein großes Dankeschön dafür.

(Almut Scheller-Mahmoud)

 

niel_raubtiereBibliografie:

Colin Niel
Unter Raubtieren
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Paperback, 403 Seiten
ISBN 978-3-85787-830-5
Erscheinnungsdatum 15. August 2022€ 16.00 / Fr. 18.00 *