Handkes letztes Epos

42757[fusion_builder_container hundred_percent=Peter Handkes neues Buch „Die Obstdiebin“ will nicht als ein Roman, nicht als eine Erzählung, sondern, nach Aussage des Autors, als ein „Letztes Epos“ verstanden sein. Epos deshalb, weil die Charaktere der Protagonisten und deren Motive nicht psychoanalytisch durchleuchtet werden sollen, wie dies in den klassischen Erzählformen häufig der Fall ist. Es geht nicht um Interpretation, sondern um das Sein. Wer eine Handlung im klassischen Sinn erwartet, der sollte zu einem anderen Autor, zumindest einem anderen Buch greifen.

Also keine Handlung? Ja, und doch auch wieder nein, denn das Buch strotzt nicht vor Handlung, sondern vor Handlungen, vor alltäglichen Kleinigkeiten, scheinbaren Nichtigkeiten, Eindrücken, Gedankenassoziationen. Diese ruft beispielsweise das Betrachten des Laufbodens während einer Wanderung hervor oder eine kleinen Mansarde, die als Übernachtungsdomizil dient, oder die Begegnung mit Obdachlosen, einem Herbergsvater und so fort – fast 600 Seiten lang.

Keine Rede von Politik, Wirtschaft, Profitdenken, Gesellschaftskritik, historischer Aufarbeitung, Soziologie, Psychologie. Stattdessen eine Zurück- oder auch Hinwendung zur Welt, wie sie immer war, ist und sein wird, zur Natur, zum eigenen Empfinden, Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken, zur großen Humanität und Empathie.

Dabei gibt es wunderschön beschriebene Sequenzen der Einsamkeit und Entfremdung gewisser Menschen von der sogenannten realen Welt, Beschreibungen der Sehnsucht nach Freundschaft, Nachbarschaft, Gemeinschaft – Liebe wäre wohl zuviel gesagt, da hoffnungslos?

Was passiert: die Obstdiebin, so genannt, weil sie sich des Drangs nach der Entwendung von Früchten des Öfteren nicht erwehren kann, sucht auf einer Wanderung durch die Picardie, den Norden Frankreichs, nach ihrer Mutter, eben jener, die im Roman „Der Bildverlust“ von Handke nach ihr, ihrer Tochter, suchte. Insofern darf, muss aber nicht zwangsläufig, „Die Obstdiebin“ als Fortsetzung, Ergänzung, zweiter Teil des „Bildverlusts“ betrachtet werden.

Das Buch ist beschreibend bis in das kleinste Detail, aber niemals wertend und eben das ist das Schöne. Eines wird jedwedem Leser abverlangt und das ist auch gut so: Geduld! Ca. 100 Seiten sollte man schon lesen, bevor man geradezu hineinfällt in dieses Buch. Wunderschön, eine Entschleunigung in unserer Welt der Beschleunigung mit ihren Folgen wie Burn-Out, Egoismus, Ellenbogendenken, Unmenschlichkeit, Desinteresse an der Welt … zu entdecken. Es geht nicht um Nostalgie, nicht um die gewünschte Rückkehr einer vergangenen Zeit, nicht um Verklärung, im Gegenteil: Es geht um das Leben in der heutigen Zeit mit großen Städten, vollgestopften verpesteten Straßen. Das alles wird beschrieben, zur Kenntnis genommen. Hier liegt keine unrealistische oder romantische Weltflucht vor, nur ein wieder „anders“ werden können. Nicht müssen, aber können, gerade auch in der heutigen Welt und wenn auch nicht permanent, so doch interimsweise zwecks Krafttankens, Rückbesinnens im nicht nostalgischen, sondern heilenden Sinn. Sehr zu empfehlen, aber nochmals: Sich darauf einzulassen und Geduld mitzubringen sind unabdingbar. Wenn dies gelingt, wird man reich belohnt.

Dirk Henschel

Bibliographie:

Peter Handke
Die Obstdiebin
Suhrkamp
Gebunden, 559 Seiten, 34 € [D] ISBN 978-3-5184-2757-6

1738_handke_peter[1]

Der Autor:

Peter Handke wurde am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Das Jurastudium brach er vor der Abschlussprüfung ab. 1966 erschien sein erster Roman, „Hornissen“, und sein erstes Theaterstück, „Publikumsbeschimpfung“, wurde in Frankfurt uraufgeführt. Seitdem hat er mehr als dreißig Erzählungen und Prosawerke verfasst und zahlreiche Theaterstücke geschrieben. Auch als Übersetzer war Handke bereits häufig tätig. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet.

Foto: © Donata Wenders