Und der Euphrat war Zeuge. Panta rhei.

Ahmet Ümit: Patasana – Mord am Euphrat

Dieser Kriminalroman von Ahmet Ümit ist eine ganz spezielle Mixtur: da mischen sich zeitgenössische Morde mit Morden, die vor 80 Jahren begangen wurden und verweben sich mit Geschehnissen aus der 2700 Jahre zurückliegenden Vorzeit. Der Roman ist wie ein Teppich und Anatoliens Geschichte ist ein idealer Webstuhl. Hier tummelten sich so viele Völker, bekriegten sich, vermischten sich: die Hethither, die Hatti, die Assyrer, die Urartäer, die Phryger und die Armenier. Und die Namen der Könige glitzern fremdländisch wie gewebte Pailetten.
Die Grundgeschichte ist folgende: ein Team aus Archäologen hat eine antike hethitische Stadt entdeckt und dort 28 Schrifttafeln in akkadischer Keilschrift unversehrt geborgen, Akkadisch war seinerzeit die Lingua franca der Region so wie heute Englisch eine weltumspannende Sprache ist. Der Sprachexperte Timothy Hurley aus Amerika bestätigt, dass es sich um Tafeln des 1. Hofschreibers Patasana handelt und dass es keine staatstragenden Texte seien, sondern seine persönlichen Erinnerungen. Es war somit das erste inoffizielle historische Dokument seiner Art.

Das internationale Team setzt sich zusammen aus Esra Beyhan, der jungen Grabungsleiterin, Kemal, dem verantwortlichen Archäologen des Istanbuler Archäologischen Museums, der Fotografin Eilif, Teoman und Murat, Halaf dem Koch und Fahrer. Und natürlich aus Timothy, Entzifferungs-Experte und Bernd, einem deutschen Archäologen, der vom Deutschen Archäologischen Institut in Istanbul geschickt worden war.
Die Texte der hethitischen Tafeln korrespondieren alternierend mit den aktuellen Geschehnissen: nämlich Morde in der direkten Umgebung der Archäologen.

Der allseits geschätzte und verehrte Haci Setta wurde vom Minarett gestürzt. Er war auf Seiten der Archäologen, obwohl ein Teil der Bevölkerung sich gegen die Arbeiten am Heiligen Schwarzen Grab wehrte. Es war das Grab eines Heiligen, zu dem die Menschen um Hilfe flehend (wegen Krankheit, Unfruchtbarkeit etc.) pilgerten.

Wer war der Mörder von Haci Setta? War es Abid, der Vorbeter der Moschee, der die Ausgrabun- gen am Heiligen Grab als Frevel titulierte? Waren es also fanatische Gläubige oder war es die kurdische Guerrilla, die seit 16 Jahren die Region in Atem hielt? Oder waren es vielleicht Schatzsucher, verbunden mit Schmugglern? Die Spekulationen beschäftigen auch Esref, den Kommandanten des militärischen Postens. Für ihn waren es die Terroristen.

Das Opfer des zweiten Mordes war Resat Aga, Oberhaupt des Stammes Türkoglu und Führer der vom Staat eingesetzten Dorfschützen. Er hatte vielen Menschen geschadet, ihnen Land und die Frauen geraubt. Vor fünf Jahren hatte er zwei Jugendliche von Hunden zerreißen lassen und einen Mann vor einen Mähdrescher geworfen. Man hatte ihn geköpft am Dorfrand gefunden, den Kopf in seinem Schoß.
Welche Gemeinsamkeit hatten diese beiden Morde? Haci Setta war ein friedliebender und ehrwürdiger Mann, Resat Aga skrupellos und brutal. In dieser Region galten Auge um Auge, Zahn um Zahn, die öffentliche Rache, um die Ehre wieder herzustellen. Aber nicht diese geheimnisumwitterten Umstände.

Das Opfer des dritten Mordes war Nahsen aus dem Dorf Timil. Man fand ihn an einem Balken aufgehängt, den Hals von Kupferdraht umschlungen.
Und Kemal wurde vermisst. War auch er ermordet worden? Esra fragte sich, ob eine Einzelperson die drei Morde begangen hatte. Sie verdächtigte im Stillen Bernd, den Deutschen, der mit einer Armenierin verheiratet war. Er war ihr unsympathisch, zu deutsch: kühl, verbissen, akribisch. Er redete zu oft und zu verbissen von dem Genozid und den späteren Massakern an Armeniern aus den Jahren 1915 und 1921. Ihr Sein Schwiegervater war in der Türkei geboren und konnte sich rechtzeitig retten. Immer wieder tönte er anklägerisch gegen die türkische Regierung. War es ein persönlicher Rachefeldzug? Für seine Frau, die wie Platon im „Gastmahl“ beschrieb, seine andere Hälfte war: zwei Menschen mit 4 Armen und Beinen und zwei Köpfen, der Androgynos.

Bei der internationalen Pressekonferenz, einberufen von Prof. Krencker, Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts, bei der eine Auswahl der Tafeln internationalen Medien wie BBC,CNN und Reuters vorgestellt werden sollte, kulminierte das Ganze in einem Vortrag von Tim.
Er beschrieb die Lage der Staaten 700 v.C.: Vermischung der Völker mit den anatotischen Hatti und indoeuropäischen Hethitern und semitischen Aramäern.

Er sah in der Bedeutung der Tafeln Vorboten der heutigen Intellektuellen. Patasana hatte sein Denken befreien können, er hatte sich gelöst von den völkervernichtenden Kriegen, den Befehlen: er wollte mitteilen, aufrufen, damit Grausamkeit, Massaker und die Liquidierung ganzer Völker sich nicht wiederholten. Er hatte das Monster im Menschen entdeckt und warnte uns vor uns selbst. Patasana hatte die naive Hoffnung, dass der Mensch sich bessere, dass er nicht mehr töte wegen Glauben, Herkunft und Hautfarbe. Aber 2700 Jahre später, trotz aller gelüfteter Geheimnisse bleibt der schwarze Fleck im Herzen des Menschen beständig.
Aber wie schon das Alte und das Neue Testament der Bibel, der Koran und die Philosophen hat es nichts genutzt. Im Gegenteil, die Menschheit wurde immer grausamer, es gab immer mehr Genozide, den Holocaust, Hiroshima.
Tim selbst war Marinesoldat in Vietnam und sah im Krieg eine Seinsform des Menschen. Natürlich werden Kriege mit Oberbegriffen gesegnet wie Vaterland, Menschenrechte im Interesse von Staaten und Klassen. Aber es sind die Menschen, die einzelnen Menschen, die ihn führen, die mit Bajonetten zustechen, Bomben werfen, Maschinengewehrsalven feuern, Panzer fahren.
Wie viele Soldaten werfen die Waffen weg, desertieren und weigern sich? Wie viele genießen das Töten und machen es zu ihrem Beruf? Kriege banalisieren den Tod. Er ist Massenware.
Ist der Mensch gut? Nein, das Böse überwiegt, ist immer attraktiver als das Gute. Auch wenn städtebauliche, technische, künstlerische Meisterwerke entstehen.
Die Aufdeckung der Morde und die Enthüllungen dazu sind mehr als überraschend und verbinden sich mit Patasanas letzten Worten:
Werdet klug, verwandelt das Leben in ein Fest, feiert das Glück, erlebt Freude statt Tränen und ein Lächeln statt Hass.
In den Roman sind vier Liebesgeschichten eingebettet:

  1. die von Patasana und Aschmunikal.
  2. Die von Bernd und Vartuhi, die sich ineinander aufgehend verschlingend äußert,
  3. die von Kemal und Eilif, die Eifersucht und Mißtrauen beinhaltet und
  4. die von Esra und Esref, zwei erwachsene, reife und offene Menschen, vielleicht mit einem Happy End?

Tims exorzistisches Traktat über die Moral des Tötens, des Krieges, der Bösartigkeit und der Friedensmöglichkeit ist wie ein Destillat der menschlichen bellizistischen Vergangenheit und Gegenwart.

Weiterführend zur Disposition des Tötens ist die Lektüre von Theweleits „Männerfantasien“ und Welzers „Täter“. Und ein Nachdenken über das Töten der Neuzeit: da gibt es Breivik, die afrikanischen Kindersoldaten, die machetenschwingenden Tutsis, die Kllling Fields von Pol Pot, das Massaker von Srebnica, die CIA-inspirierten Foltertmethoden, die Dschihadisten .

Die Lektüre dieses Kriminalromans war nicht nur detektivische Spannung, wer wieso warum?, sondern auch ein Ausflug in die Melting Pot-Geschichte Anatoliens und vor allem in die menschliche Seele.

(Almut Scheller-Mahmoud)

ahmed

Bibliographie

Ahmet Ümit
Patasana – Mord am Euphrat
Kriminalroman
Aus dem Türkischen von Recai Hallaç
416 Seiten
ISBN 978-3-293-20606-9
13.95 Euro