Thomas Kunst: Zandschower Klinken

Thomas Kunsts Roman Zandschower Klinken schildert den Aufbruch Bengt Claasens aus seiner krisenhaften Lebensrealität. Die daraus resultierende Suche nach einem gemeinschaftlichen Ort, an dem das Heterogene noch zusammenwirken kann, erzeugt auf besondere Weise die Hoffnung auf einen Ausweg.  Der Roman hinterfragt aber nicht nur thematisch, sondern auch durch sein Formgefüge die homogenisierten Werte unserer neoliberalistischen Gesellschaft. Durch seine unverwechselbare Struktur setzt er innerästhetisch ein Zeichen.

Zandschower Klinken ist bereits der einundzwanzigste Band des zum Suhrkamp-Autor avancierten Schriftstellers Thomas Kunst

Mit viel Witz und Imaginationskraft erzählt er die Geschichte Bengt Claasens, der in einem Ort namens Zandschow eine utopische Solidargemeinschaft findet, die ihn mit ihren verzaubernden Ritualen und lebhaften Zeitplänen in ihren Bann zieht. Ein Hundehalsband nimmt dem durch Norddeutschland Fahrenden dabei die Entscheidung ab. Das Gepäck ist bereits im Kofferraum, als der Roman beginnt. Bengt Claasen sitzt im Auto. Dort, wo das Hundehalsband vom Armaturenbrett fällt, möchte Bengt bleiben. So rutschen wir zunächst recht gemächlich in diesen Roman hinein. Gleichzeitig sind wir aber auch schon im verwegenen Spiel mit Zeit und Raum und dem Wechsel der Geschwindigkeiten. Im Raum besteht kein Erzählkontinuum mehr. Es wird aufgesprengt durch den schnellen Ortswechsel, das variierende Erzähltempo. Denn Thomas Kunst beherrscht auch die Schubumkehr. Noch von einer eigenartigen Stilllegung befangen, passiert es, dass wir im Sekundenwechsel durch poetische Assoziationsbeschleunigung von einem Kontinent zum anderen befördert werden. Zwischen Kolumbien, Sansibar und der Küstenlandschaft des Indischen Ozeans liegen oft nur wenige poetische Bilder Entfernung. Als Blitz- und Glanzlichter reflektieren sie aber durchaus auch dasjenige, das sie scheinbar überblenden. Stichhaltig entwickelt Thomas Kunst durch schnellen Bilderwechsel die Perspektive einer freundlicheren Globalisierung in Abgrenzung zu den bestehenden Verhältnissen. Der Roman hinterfragt so die Auffassung, dass es aus diesen kein Entrinnen, keinen Ausweg gebe. Eine poetische Welt, die nicht mehr durch Nationalgrenzen fundiert ist, sondern durch poetische Neugier. Diese globale Perspektive, diese Horizonterweiterung erfüllt dabei keinen Eigenzweck, sondern hilft dabei wie im Spiegelkabinett den Ausgangsort -die gegenwärtige Situation im globalisierten Neoliberalismus- zu belichten.

Das Verrücken der Ebenen in verrückten Zusammenstellungen

Zandschower Klinken geht durch das geschickte Verrücken der verschiedenen Erzählebenen über das avantgardistische Experiment und das individualistische Sprach- und Formenspiel hinaus. Das realialitätsversessene Erschließen von Daten und zeithistorischen Fakten spielt dabei zugegebenermaßen nur eine sekundäre Rolle. Diese Realitätsebene bleibt aber vorhanden, und gibt dem Roman seine politische Dimension. Sie wird verrückt durch eine weitere Ebene, die als Ausdruck eines Kollektivbewusstseins die Innenwelten, Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen seiner Figuren zum Ausdruck bringt. Aus der Vertauschung und Verrückung der verschiedenen Ebenen generiert Kunst sein Erzählprinzip. Man denkt dabei sehr oft an die Prinzipien der österreichischen Avantgarde, an Konrad Bayers Sechsten Sinn oder an Andreas Okopenkos Lexikon-Roman und dennoch durchherrscht diesen Roman ein unverkennbarer Kunst-Sound. Seit mehr als dreißig Jahren schreibt Thomas Kunst Lyrik und Prosa und befasst sich mit musikalischer Improvisation. Musik ist auch das Stichwort, wenn es zu der repetitiven Struktur des Romans kommt. Die Orte und Motive in seinen Texten wechseln so virtuos wie die Sprach­ebenen, eine Vielfalt an literarischen Formen werden durchgespielt wie wandernde Töne auf der Tonhöhe verschiedener Tonleitern.

Unaustauschbare Sprachmagie und austauschbarer Spielwert

Sprache wird dabei zum Spielmaterial und wird in verschiedene Richtungen orchestriert.  Beinahe undeutbar aber deutlich versetzt, zeigen sich die Motive, die derart helfen die wirkliche Wirklichkeit literarisch zu bewältigen.  Poetisch umkreist Thomas Kunst aber nicht nur die eigenen ästhetischen Möglichkeitswelten, sondern erzählt unsere gegenwärtige Gesellschaftserfahrung zwischen jeder Zeile mit. Der austauschbare Spielwert einer unaustauschbaren Sprache generiert so eine Struktur, die förmlich ins Gehör geht und an die sich die Imaginationskraft festhalten kann. In der Wiederholung verdichtet sich poetische Raumerfahrung. In ihr steht Zeitgeschichte still und schärft den Blick für dasjenige, das noch als Abweichendes materiellen Grund zur Hoffnung gibt. Manchmal scheint es sogar, als ob gerade dieses Erzählprinzip das gesellschaftlich Vorhandene fast schon spielerisch bewältigte. Eine unbestimmte Hoffnungsidee gewinnt in den ständig variierten Leitmotiven Materialcharakter und wird dadurch neu bestimmt.  In jeweils verwandelter Form wird Auswegshoffnung ins Spiel gebracht, wobei das Spiel mit dem Sprachmaterial nie zum Selbstzweck wird. Nicht nur werden die vielen Leitmotive durch diese Wiederholungsstruktur variiert, sondern sie werden in den verschiedenen Kapiteln des Buches verrückt, ausgehend von verschiedenen Perspektiven belichtet und in einen völlig anderen Kontext versetzt. Die in sich umkehrender Reihenfolge zum Vorschein gelangenden Verwandlungsmotive helfen dabei nicht nur sich gegenseitig zu belichten, sondern rücken auch die Erzählebenen selbst in ein neues Licht. Durch das Vertauschen des Kontexts verwandeln sich aber umgekehrt auch die Motive. Für den Leser entstehen so ganz neue Zusammenhänge, die durch ein rein lineares Erzählverfahren vielleicht nicht sichtbar würden. Dem wohnt immanent eine Kritik der traditionellen Erzählweise inne.

Zandschower Klinken schickt uns auf eine Erkundungsreise, mitten hinein in die Auswege aus unserer Gesellschaft, in ein Aussteigerdasein, das vermutlich nur literarisch fassbar werden kann. In einzigartigem Sprachlicht zeigt uns Thomas Kunst die Wichtigkeit der beinahe in Vergessenheit geratenen Grenzwerte der Solidarität, der Freiheit oder des kollektiven Glücks. In raffinierten poetischen Konstellationen wertet Thomas Kunst das gesellschaftlich Entwertete wieder auf- zum Vorschein kommt das Aufgewertete dabei sehr konkret. Mithilfe seltsamster Motivzusammenstellungen entsteht so ein poetischer Kunst-Raum, der sich von den anerkannten Gesellschaftsidealen abgekehrt hat. Durch ästhetische Imaginationskraft wird uns Lesern so die Klinke in die Hand gedrückt. Das avantgardistische Erzählprogramm wird radikal durchgezogen. Noch gegen Ende des Romans verbleibt der Leseeindruck, dass es sich zumindest lohnt, den Spuren des fernen Leuchtens, wo es sich zum jetzigen Zeitpunkt noch zeigen kann, nachzugehen – ein virtuoser Roman.

Björn, Treber

zandschower-klinken_9783518429921_coverBibliografie

Thomas Kunst
Zandschower Klinken
ISBN: 978-3-518-42992-1
Suhrkamp Verlag, 3. Auflage
22,00 € (D)