Eine Kirchengeschichte ex negativo

Pressebild_Das-Buch-der-KetzerDiogenes-Verlag_72dpiBis in die heutige Popkultur hinein hat sich der Begriff „Ketzer“ seinen düsteren Klang bewahrt. Er ruft Bilder von Satansverehrern hervor, von Hexen und heidnischen Ritualen. Die kirchliche PR hat ganze Arbeit geleistet. Dabei lässt sich der Begriff des Ketzers auch ganz anders verstehen, wie uns Walter Nigg in seinem „Buch der Ketzer“ aufklärt.

Im Vorwort gibt er den neuen Blickwinkel vor: Worunter die Betrachtung des Ketzertums bislang oft litt, ist, dass die Geschichtsschreiber es nur in Gegnerschaft zum Christentum, gewissermaßen als seine Antithese, verstanden. In Wahrheit ist der Ketzer zumeist ein tiefgläubiger Mensch, ein Christ mit stärkerer Überzeugung als so mancher Mitläufer und Machtpolitiker. Die Verunglimpfung und Verfolgung verdankt er vielmehr der individuellen Prägung seiner Gläubigkeit, die den Machterhalt der Kirchenväter zu bedrohen scheint. Der Ketzer unterscheidet sich in seiner radikalen Gläubigkeit vom Heiligen vor allem dadurch, dass er seine Unterwerfung unter Gott nicht durch eine Unterwerfung unter die weltlichen Kirchenfürsten schmälern möchte. Wie auch der Heilige nimmt er für seinen Glauben ein Martyrium auf sich.

In zeitlicher Reihenfolge behandelt jedes Kapitel einen historischen Ketzer, jeweils unter Betonung eines bestimmten Gesichtspunktes des Ketzertums und der wechselseitigen Bedingtheit von Ketzern und Kirche. Angefangen bei Simon Magus, dem „Vater aller Häretiker“ und der Gnosis werden verschiedene historische Figuren, Gruppierungen und Institutionen beleuchtet, etwa der Ketzerbekämpfer Irenäus, der Mönch Gottschalk, die Katharer und Waldenser, die Inquisition, Meister Eckhart, Martin Luther und viele weitere, bis hin zu Gotthold Ephraim Lessing und Leo Tolstoi.

Die Fülle an geschichtlichem Detailwissen, die verständlichen Erklärungen und Deutungen und die Einsichten in die schwierige Quellenarbeit Niggs ermöglichen tiefe Einblicke in die Kirchengeschichte und eröffnen ganz neue Perspektiven auf Ereignisse, die im Geschichts- oder Religionsunterricht doch noch ganz eindeutig erschienen waren. Eine empfehlenswerte Lektüre, für jeden, an der europäischen (Kirchen-)Geschichte Interessierten und jeden, der sich intellektuell mit verschiedenen Facetten des christlichen Glaubens auseinandersetzen möchte.

Tobias Schudok

Bibliographie:

Walter Nigg
Das Buch der Ketzer
Diogenes
Leinen mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 608 Seiten
ISBN 978-3-257-06993-8
30€ [D] 30,90€ [A] 40 SFR (UVP)

Der Autor

Walter Nigg geboren 1903 in Luzern, studierte Philosophie und Theologie. Er war Professor für Kirchengeschichte in Zürich und protestantischer Pfarrer im Dänikon, wo er 1988 starb. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Sein Schwerpunktthema stellen die Heiligen dar.