Weibliche Homunculi oder künstliche Paradiese

Frances Cha: Hätte ich Dein Gesicht

Mein Wissen über Korea ist sehr oberflächlich. Stichwortartig: Die Trostfrauen im 2. Weltkrieg, Teilung des Landes in Nord und Südkorea durch den Koreakrieg Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Aufstrebender technikaffiner Tigerstaat – z.B. Autos, seit einiger Zeit auch Pop-Musik und Filme. Die Moon-Sekte und koreanischen Ginseng. Von seinen uralten Traditionen weiß ich nur, dass das Land und die Menschen stark durch den Konfuzianismus und den Buddhismus geprägt wurden.

Der vorliegende Roman, in dem in wechselnden Kapiteln die weiblichen Protagonisten von sich, ihrem Leben, ihren Wünschen, Träumen und ihrem Alltag erzählen, gibt Einblick in ein Weltbild, das mir sehr weit weg, sehr fremd erscheint. Ich fühlte mich bei der Lektüre wie eine Außerirdische und kann das dort beschriebene Streben nach plastifizierter Schönheit nicht nachvollziehen. Schönheit – was ist das? Schönheit liegt im klassischen Sinne im Auge des Betrachters. Ein geschultes Auge, ein menschliches Auge sieht nicht nur die Oberfläche, sondern auch die durchschimmernde Persönlichkeit. In dieser Suche nach der perfekten Schönheit steckt ein Schuss Misogynie: eine versteckte Abwertung des Weiblichen, „so wie Gott sie schuf“.

Aber an Persönlichkeit und Selbstbewusstsein scheint es den fünf Frauen zu fehlen. Ihr Leben reflektiert das Wettbewerbsdenken und – streben, das die gesamte koreanische Gesellschaft durchseucht. Für mich ist Miho, die Künstlerin, die einzige authentische weibliche Figur.
Ara, die als Friseuse und Stylistin arbeitet und nach einer jugendlichen Gang-Schlägerei stumm ist. Sie ist vernarrt in einen Sänger einer angesagten Musikgruppe.

Sujin arbeitet in einem Nagelstudio. Ihr Traum ist jedoch ein sog. Room-Salon-Mädchen zu werden. Dafür hat sie sich gerade von einem der renommiertesten Schönheitschirurgen Lidfalten, Kinn, Kiefer- und Wangenknochen operieren lassen.
Kyuri ist ein Room-Salon-Mädchen und arbeitet in einem der teuersten Salons der Stadt. Sie ist eine wandelnde, leibhaftige Barbiepuppe.
Miho ist wie Sujin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Sie hatte Glück, ihr künstlerisches Talent fiel auf und sie wurde mit einem Stipendium nach New York geschickt.

Sie wie auch Ara sind „natürlich“ geblieben, das bedeutet in diesem Kontext: Gesichter ohne ästhetische Nachpolierung, „freie“ Haare.
Und dann ist da noch Wonna, eine verheiratete Frau, die einen freundlichen „harmlosen“ Mann in vermeintlich guter Position mit gutem Gehalt geheiratet hat. Ein zusätzlicher Pluspunkt: seine Mutter war verstorben. Der Hass der Schwiegermütter auf ihre Schwiegertöchter ist legendär. Wonna hatte bereits 3 Fehlgeburten hinter sich und war nun abermals schwanger.
Alle Frauen leben im gleichen Appartementhaus, einem sog. Officetel.
Alle kommen aus einfachen Verhältnissen, mit komplizierten Familienverhältnissen.
Ihr Leben in der Großstadt ist auch eine Flucht, um dem Fluch der finanziellen und geistigen Armseligkeit zu entkommen.
Natürlich gibt es auch einige männliche Gestalten in diesem Roman, der messerscharf die koreanische Gesellschaft seziert. Da sind Bruce, ein Kunde von Kyuri, Hanbin, der Erbe einer reichen einflussreichen Familie und Geliebter von Miho, der Sänger Taein, angehimmelt von Ara mit seinem Statement: Unsere Wurzeln machen uns zu dem, der wir sind und er würde die Härten der Vergangenheit nicht leugnen, denn sie sind die Quelle seiner Texte und seiner Musik.
Der Manager Oppa aus Kyuris Room Salon, der sich für sie interessiert und Mr. Moon, ein Friseur aus dem Heimatort von Ara, der ihr damals nach der Schlägerei das Leben rettete.

Aber die Männer sind irgendwie blass, obwohl Korea eine männerdominierte Gesellschaft ist.
Die sind die Kunden der Room Salons, besseren Besäufnis-Anstalten, wo sie jeden Abend der Woche nach einem anstrengenden fremdbestimmten Arbeitstag saufen.

Die Mädchen eines solchen Salons, von denen es einfache bis luxuriöse Etablissements, je nach Kundschaft, gibt, sind Animierdamen, die die Gläser der Gäste immer wieder sofort nachfüllen und oft selbst mittrinken. Die Mädchen arbeiten für Geld, um sich doch immer wieder für weitere OPs, neue Glitzerklamotten und teuere Handtaschen neu zu verschulden. So bleiben sie in einem circulus vituosis gefangen, wohl wissend, dass ihr Körper dem Verfallsdatum unterliegt. Im Vergleich zu diesen animierenden Mädchen waren die Giasengs (Geishas) der Vergangenheit hochgebildete Frauen, in vielen Künsten bewandert, auch wenn deren Leben auf eine andere Art ebenfalls hart war.

Frances Cha: Hätte ich Dein Gesicht

Gesichtsverlust ist ein Kennzeichen der koreanischen Gesellschaft. Und so ist der Aufbau eines künstlichen Gesichts vielleicht ein Ausdruck von Angst vor Ächtung und aus dem Rahmen des Status-Denkens zu fallen. Ein manipuliertes, „poliertes“ Gesicht erhöht das Ansehen in der Öffentlichkeit. Social surgery.
Die Autorin beschreibt hautnah und nachvollziehbar die seelischen Gemengelage der Mädchen, kritisiert indirekt die gesellschaftlichen Normen, die zu konsumierenden Obsessionen und Oberflächlichkeit führen. Die Idee zu diesem Roman kam Frances Cha, als sie das erste Mal mit einem Freund einen Room Salon besuchte. Sie wollte hinter die Fassade schauen, unterhielt sich mit vielen Mädchen, deren Erfahrungen als Mixtur dann zu diesem Buch verarbeitet wurden.
Eine verstörende, aber lohnenswerte Lektüre, die uns als Lesende mit den Trends der Moderne konfrontiert: dem Schönheitswahn, der Flucht vor sich selbst, dem Konsumterror.
Das Buch schließt mit angedeuteten Veränderungen. Kleinen Veränderungen, aber vielleicht sind es Schritte in neue Lebenskapitel?
Zum Abschluss: es gibt einen wunderbar passenden Songtext von Sascha Berger: Zeig mir Dein Gesicht. Und das Konzept des Ursprünglichen Gesichts aus dem Zen-Buddhismus:
Was war Dein Gesicht, bevor Du geboren wurdest?
Sometimes I wish a had an extra eye. So I could look with more distance at myself.
Almut Scheller-Mahmoud

gesichtBibliografie:

Frances Cha
Hätte ich dein Gesicht
Roman – Aus dem Englischen von Nicole Seifert
€ 23.00, FR 31.00, € [A] 23.70
Hardcover,288 Seiten
ISBN 978-3-293-00586-0